So gut müssen Firmen gar nicht sein

Es ist stets ratsam, misstrauisch zu sein, wenn irgendwo eine Kehre ausgerufen wird. Häufig geben diese Kehren nur vor, Kehren zu sein. Erst recht, wenn es sich  um eine Rückkehr handelt.

So eine Kehre wird derzeit rund um die „Purpose“-Bewegung diskutiert. Diese Bewegung konnte über mehrere Jahre hinweg den wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Diskurs in den Unternehmen dominieren, die Ausrichtung des Unternehmens auf einen Zweck (englisch: purpose) – idealerweise auf einen, wie auch immer gearteten, guten. Jetzt scheint es so, als sei die Geschäftswelt dessen überdrüssig geworden und wende sich wieder dem guten, alten (ehrlichen?) Geldverdienen zu. Die These lautet: Die Ausrichtung auf einen Zweck ist am Ende. Trifft das zu? Oder haben wir uns vielleicht schon mit der ersten Kehre getäuscht?

An beiden ausgerufenen Kehren war der Finanzunternehmer Larry Fink beteiligt. Jetzt betont er, dass er Geld verdienen möchte. Vor drei Jahren ging es in der allgemeinen Wahrnehmung hin zum Purpose, als Fink ein inzwischen berühmt gewordenes Dokument unterzeichnete, in dem sich Dutzende von Unternehmenslenker davon abwandten, ausschließlichihren eigenen Aktionären zu dienen. Wenige Monate später allerdings schrieb er einen nicht minder berühmten Brief  an die Manager der Beteiligungen seiner Fondsgesellschaft  Blackrock. Auch darin verpflichtet er die Manager jener Unternehmen auf den Purpose. Es lohnt sich, jenen zweiten Brief genauer zu lesen. Darin steht ein trotz Fettdruck erstaunlicherweise vielfach unbeachtet gebliebener Satz: „Am Ende ist Purpose der Motor für langfristige Profitabilität.“ 

Nimmt man diesen Satz von Fink ernst, so war der Zweck immer schon Mittel zum Zweck. Um zu verstehen, warum die „Purpose“-Bewegung trotzdem über mehrere Jahre den wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Diskurs dominieren konnte, lohnt es sich, ein wenig philosophische Archäologie zu betreiben. 

Der „Purpose“-Gedanke fiel nämlich auf sehr fruchtbaren philosophischen Boden und wurde absichtlich (englisch: on purpose) zweckentfremdet. Schon für Aristoteles war der „Purpose“ (oder auf Deutsch: der Zweck)einer der Gründe, weshalb Dinge existieren. In seinem großen Werk der „Physik“ präsentiert er  vier Ursachen der Dinge: die causa materialis, die causa formalis, die causa efficiens und die causa finalis. Jedes Ding besteht demnach, weil es eine bestimmte Materie hat (zum Beispiel Metall), eine bestimmte Form (zum Beispiel ein Schlüssel), außerdem jemanden oder etwas, der oder das es in diese Form gebracht hat (der Schlosser), und einen Zweck (das Öffnen der Tür). Dieser Zweck –  also der „Purpose“ –  antwortet auf die Frage: Wozu ist es gut? Wozu nützt es?

Die mittelalterliche Scholastik versuchte  zu zeigen, dass dem Zweck unter den vier Ursachen der Existenz eine herausgehobene Rolle zukomme.  Ohne die Notwendigkeit, die Tür auf- und abschließen zu können, gäbe es weder Schlüssel noch Schloss und am Ende auch keinen Schlosser.  Dass alles, auch der Mensch, seinen Zweck hat, garantierte die menschliche Würde und die göttliche Schöpfungsordnung. Es machte die Welt berechenbar und stabil.

Doch mit dem Ende der geordneten und Gott geweihten Welt ging auch der „Purpose“ verloren. Im Zuge der Aufklärung   wurde er sogar aktiv geschliffen: Die philosophische Debatte des 17. Jahrhunderts (Hobbes, Descartes, Spinoza) griff die „causa finalis“ nicht mehr auf. Und Charles Darwin riss mit seiner auf Zufall und Auswahl basierenden Evolutionstheorie die Vorstellung völlig ein, dass sich irgendetwas in dieser Welt einem Zweck verdanke. Die Naturwissenschaften beschreiben Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Die Frage nach einem Zweck ist ihnen suspekt. 

Auch moderne Ansätze in Philosophie und Soziologie wie der (Post-)Strukturalismus und die Systemtheorie kommen ohne ihn aus. Das berühmte Diktum des Ökonomen Milton Friedman „The business of business is business“ vollzieht daher mit seiner Tautologie diesen Trend für die Welt der Wirtschaft nur noch nach. Der Soziologe Niklas Luhmann formulierte es später abstrakter: Die Wirtschaft ist ein System von Zahlungen, das sich selbst erhält. Der einzige Zweck ist die Erhaltung von Zahlungsfähigkeit.

Nun sind wir aber im Alltäglichen ständig mit Zwecken jeder Art konfrontiert. Der Herd ist zum Kochen da, das Auto zum Fahren, und das Telefon war mal zum Telefonieren da. Wir erleben, dass die Dinge um uns herum zu etwas gut sind. Und in unserer Leistungsgesellschaft leiten wir unser Selbstwertgefühl davon ab, dass wir zu etwas nutze sind. Was nicht (mehr) zu gebrauchen ist, wird entsorgt. Wer nicht zu gebrauchen ist, findet keine Stelle. Zwecke, wo man hinschaut. Nur hatte sie bislang noch niemand „Purpose“ genannt, sondern eher „Nachfrage“.

Larry Finks Mahnung ließe sich ganz simpel lesen: Ein Unternehmen, das zu nichts nutze ist, das keine gesellschaftliche Nachfrage bedient, verliert seine Daseinsberechtigung und damit die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ohne einen Unternehmenszweck, den man bei der Anmeldung eines Unternehmens in Deutschland sogar angeben muss, keine Aussicht auf Profit oder Wertsteigerung.

Man hätte sich in den Unternehmen einfach hinsetzen und den eigenen Unternehmenszweck noch mal überdenken können. Ein Geschäftsmodell, das auf der Produktion von krebserregenden Giftstoffen beruht, ist offensichtlich wenig zukunftsfähig, da solche Produkte nach und nach verboten werden. Ein Geschäftsmodell, das auf erneuerbare Energien oder Impfstoffe gegen Pandemien setzt, sieht sich umgekehrt von vielen Trends technologisch, politisch und gesellschaftlich getragen.

Doch der Ball wurde in den Firmen nicht von den Strategieabteilungen, sondern von den Marketing- und Branding-Abteilungen aufgefangen. Sie sahen die Chance, in eine Leerstelle der modernen Gesellschaft vorzustoßen. Die Wirtschaft sollte auch die Sinnsuche und Sinngebung übernehmen. Man überhöhte den „Purpose“ zu einem „Noble Purpose“, einem edlen Zweck. Das kam nicht ganz unvorbereitet. Schon 2013 war ein Buch mit dem Titel „Selling with Noble Purpose“ erschienen. Die Autorin behauptet, die Motivation, anderen etwas Gutes zu tun, liefere bessere Verkaufsergebnisse als monetäre Erfolgsprämien. Auch in Führungskräfteseminaren hat der „Purpose“-Gedanke längst Eingang gefunden. Mit Populärpsychologie und religiösem Synkretismus produzieren sie kleine Erweckungserlebnisse für die Manager-Elite, die  mit guten Vorsätzen nach Hause kommt, bis die nächste Kennzahlenbesprechung sie auf den Boden der ökonomischen Wirklichkeit zurückholt.

 Kein Wunder, dass der „Purpose“-Gedanke  auch bei Kritikern des  Kapitalismus auf fruchtbaren Boden fiel. Selbst wenn  keine Gewinne zum Verteilen  da sind,  „Purpose“ gibt es immer mehr als genug. Und man war großzügig.

So großzügig, dass die inneren Widersprüche des Konzepts zunächst nicht auffielen. Doch man muss nicht Luhmann gelesen haben, um zu verstehen: Jeder Anspruch auf einen Sinn ist mit der kon­stanten Herausforderung des Unsinns –  oder besser des Nichtsinns –  konfrontiert. Das System, das den Sinn behaupten und verteidigen muss, ist dabei umso stabiler, je flexibler der Sinnbegriff verwendet werden kann.

Umgekehrt ausgedrückt: Je umfassender und letztgültiger der „Purpose“-Begriff interpretiert wird, desto schwieriger wird es, das System stabil zu halten, das man darauf baut. Schon die Kirche hatte Schwierigkeiten, die Widersprüche des letztgültigen Sinnbegriffs auszuhalten. Wenn Gott vollkommen ist und es ihm an nichts fehlt, warum schuf er dann die Welt? Wenn Gott das Gute will, was ist dann der Zweck des Bösen in der Welt? Wenn Gott barmherzig ist, warum gibt es dann die Hölle?  Auf diese Fragen antwortet die Kirche  nicht mit theoretischen Sätzen, sondern mit ihrem Bekenntnis, ihrer Praxis und ihrem  Kult. Ich muss die Frage nach Gott theoretisch nicht gelöst haben. Ich kann im Heute Gutes tun und um Erlösung in der Zukunft beten.

Die moderne Ökonomie hat sich nach Luhmann vor allem durch ihre Zugänglichkeit für jeden und ihr  Wachstumsversprechen stabilisiert. Jeder kann von jedem alles kaufen. Und Geld kann zwischen allen Zahlungen vermitteln. Es kennt keine gesellschaftliche Hierarchie, keine Geschichte und keine Zukunft. Diese radikale Agnostik öffnete das System für jeden und machte es maximal flexibel.

„Pecunia non olet“, „Geld stinkt nicht“, soll der römische Kaiser Vespasian erklärt haben, um die Toilettensteuer hoffähig zu machen.  Wenn nun aber zusätzlich zu Geldzahlungen in der Wirtschaft ein zweiter Code eingeführt wird, so reduziert das die Flexibilität des Systems. Geld bekommt auf einmal einen Geruch. Geschäfte bekommen ein „Geschmäckle“. Neue Begrenzungen tauchen auf, die Kommunikationsfähigkeit zwischen den Akteuren leidet. Das reduziert die Möglichkeit des Austauschs, das System wird instabiler und weniger profitabel. 

 Der langfristige Motor von Profitabilität, wie von Larry Fink gefordert, kann „Purpose“ hingegen nur dann sein, wenn er  sich in einem Höchstmaß an die Erwartungen der Konsumenten anpassen kann. „Purpose“ muss dann im Plural definiert werden  – und ist alles, wofür es eine Nachfrage gibt. Damit wird er aber austauschbar mit dem Code des Geldes. Wofür es eine Zahlungsbereitschaft gibt, das ist gut für jemanden, das hat also einen Zweck, einen Purpose.

Der „Noble Purpose“ weckt jedoch andere Erwartungen. Es geht um die Rettung der Welt vor der Klimakatastrophe, um die Gleichberechtigung der Geschlechter, der Herkünfte und der sexuellen Orientierungen, um den Sieg über den Hunger, die Kindersterblichkeit und die großen Zivilisationskrankheiten, um die Herausführung der Menschen aus der Armut und die Demokratisierung diktatorischer Gesellschaften. 

Diese Erwartungen sind an und für sich schon schwer auf einen Nenner zu bringen. Sie bringen Priorisierungspro­bleme ersten Ranges mit sich, weil sie alle stark werteorientiert  sind. Noch viel mehr  gilt das für die Ideologie, dass all jene Ziele auch noch mit der Profitmaximierung in Deckung zu bringen seien.   

Das war der Traum, den Teile der Wirtschaft uns in den vergangenen Jahren haben träumen lassen. Und über Jahre anscheinend anlasslos steigende Börsenkurse haben die Wiege dazu geschaukelt.

Angesichts der Rückkehr harter ökonomischer Probleme wie der Stabilität von Lieferketten, der Versorgung mit Energie oder der Inflation von Gehältern und Materialpreisen sind die Wirtschaftslenker aus ihren Träumen aufgewacht. Wo die Ergebnisse des nächsten Quartals unsicher sind, dient die Fokussierung auf den nackten Profit zuvorderst der Selbststabilisierung des Systems.

Genau das hat die Ökonomie in den vergangenen 200 Jahren so erfolgreich gemacht. Der Moralphilosoph Adam Smith,  Kronzeuge des Kapitalismus, hatte der Politik schon im 18. Jahrhundert geraten, nicht auf das Wohlwollen des Bäckers zu  setzen, um unsere Ernährung zu gewährleisten, sondern auf sein Eigeninteresse, mit unserem Hunger ein Geschäft zu machen.  Dieser geniale Schachzug lagerte die Rettung der Welt an die „unsichtbare Hand“ aus. Er belästigte die Akteure nicht mit komplexen Überlegungen zu einem „Noble Purpose“.

Für die meisten Unternehmen würde es schon reichen, einfach ihren direkten Unternehmenszweck gut zu erfüllen und damit Geld zu verdienen. Die Sinnsuche könnten sie getrost anderen überlassen, die hierin mehr Kompetenz haben. Und jedem stünde weiterhin frei, sein Geld auch für die Weltrettung auszugeben. Geld stinkt nämlich nicht.

Erste Veröffentlichung: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 39, 2.10.2022

https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/das-grosse-missverstaendnis-mit-dem-purpose-18354590.html