Nicht erst seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine steht die Moral auch in der Wirtschaft wieder hoch im Kurs. Das World Economic Forum hat Kennzahlen für ethisches Wohlverhalten entwickelt, und Unternehmen versuchen, sie zu implementieren. Doch brauchen wir nicht radikalere Ansätze?
Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann hat der Wirtschaftsethik unterstellt, „dass sie zu der Sorte von Erscheinungen gehört wie auch die Staatsräson oder die englische Küche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheim halten müssen, dass sie gar nicht existieren“.
Zahlreiche Lehrbücher der Wirtschaftsethik versuchen, diesem Verdikt zu trotzen, und auch die Unternehmen selbst sind wieder einmal zum Beweis des Gegenteils angetreten. Sie wollen sich neben ökonomischen auch an sozialen und ökologischen Zielen messen lassen. ESG ist die neue Zauberformel: Environmental, Social, Governance.
Die Ziele sind vielleicht neu. Die Methode ist es nicht. So wie Unternehmen und Gesellschaften in den vergangenen hundert Jahren durch Benchmarks auf Effizienz, Wachstum und Wohl- stand getrimmt wurden, so organisieren wir nun einen Markt für ethisches Wohlverhalten, auf dem sich im freien Wettbewerb die Besten durchsetzen sollen. Als wolle man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, hat das World Economic Forum (WEF) gemäß der alten Managementweisheit „What is not measured cannot be improved“ 21 Kernkennzahlen (und 34 ergänzende) erarbeitet.
Doch lässt sich ethisches Verhalten mit den Methoden der Wirtschaft erreichen oder gar erzwingen? Zweifel sind angebracht. Erstens teilen die erweiterten Kennzahlensysteme die Schwächen der bisherigen: Sie bilden die Wirklichkeit nur ver- kürzt und partiell ab und führen zu ungewollten Fehlanreizen. Früher hat mancher Vorstand zur Optimierung des Cashflows das Tafelsilber der Firma verkauft – heute ließe sich zum Beispiel die soziale Kennzahl, die den Lohnunterschied zwischen CEO und Mitarbeitern definiert, durch ein Outsourcing von Kantine oder Fuhrpark leicht korrigieren. Gesellschaftlich wäre nichts gewonnen. Aber der ESG-Bericht wäre gerettet!
Zweitens sind die Wirkzusammenhänge bei den ESG-Kennzahlen uneindeutiger als bei den ökonomischen. Wenn die Kosten stärker steigen als der Umsatz, sinkt der Gewinn, das ist bei allen Unternehmen gleich. Doch wie verhalten sich etwa der Wasserverbrauch und die CO2-Bilanz zueinander? Einerseits erhöht die Frischwasserkühlung die Effizienz eines Kohlekraft- werks und senkt die spezifischen CO2-Emissionen. Anderer- seits verbraucht sie mehr Wasser als andere Optionen und er- wärmt zudem die Flusstemperatur. Was tun?
Drittens sind die Zielgrößen der ESG-Kennzahlen nicht markttransparent. Der Gewinn eines Unternehmens lässt sich analytisch aus den (an den Aktien- und Anleihemärkten gehan- delten) Kapitalkosten eines Unternehmens ableiten und in Ziel- kosten sowie Zielwachstum umlegen. Aber welches Lohngefälle zwischen welchen Beschäftigten herrscht, welche Art von Diversität und welcher Anteil welcher Gruppe in welchen Gremien gut ist oder welche Fortbildungen sinnvoll sind – all das lässt sich nicht analytisch aus einer Marktkennzahl ermitteln. Schon die Auswahl der ESG-Kennzahlen durch das WEF war das Ergebnis eines komplexen Stakeholderprozesses. Die Ziele werden im Einzelfall mühsam ausgehandelt werden müssen.
Die Wirtschaft ist auf ein solch umfassendes System noch nicht vorbereitet. Die Finanzabteilungen der Unternehmen sind um ein Vielfaches größer als die für ESG bereitgestellten Teams. Auch die nötigen Kompetenzen werden noch nicht im Studium gelehrt. Die Orientierungslosigkeit ist mit Händen greifbar. Ver- mutlich hat auch deswegen der „Economist“ kürzlich auf dem Titelblatt gefordert, ESG radikal zu vereinfachen und nur noch den CO2-Ausstoß zu messen. Dabei ist die von Luhmann diag- nostizierte Herausforderung im Kern noch gar nicht verstanden: Die Ethik ist kein Anhängsel der Wirtschaft. Sie unterscheidet sich von der Ökonomie in Ziel und Methode. Daher kommen wir mit einem Kennzahlensystem allein nicht weiter.
Das Ziel der Ökonomie ist die Optimierung meines Nutzens: Ich habe Priorität vor den anderen. Der ethische Blick auf die Welt setzt hingegen mich an die zweite Stelle. Es war der französische Philosoph Emmanuel Levinas, der die individuali- sierte Selbstorientierung des westlichen Denkens radikal hinterfragte: Descartes ging es um Selbstbegründung, Spinoza um Selbstbehauptung, den modernen Wissenschaften (nicht nur der Ökonomie) geht es um Selbstoptimierung. Der andere Mensch, das Gegenüber, kommt in diesem Denken nur nachgeordnet, als Instrument, als Mittel zum Zweck vor. Er ist ein (austauschbarer) Bandarbeiter oder Verkäufer oder CEO. Es geht nie um ihn, immer um seine Funktion in einem System, das meiner Optimierung dient.
Angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die die Philosophie der Selbstoptimierung nicht verhindern konnte, schlug Levinas einen anderen Zugang zur Welt vor. Die Kern- frage menschlicher Existenz ist für ihn nicht: „Warum existiert überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“, so wie sie von Aristoteles bis Leibniz gestellt wurde. Auch nicht die große Frage der Aufklärung, worauf ich meine Erkenntnis gründen könne. Stattdessen sei die erste Frage, die ich mir stellen müsse: „Woher nehme ich das Recht, meinem Nächsten den Platz wegzunehmen – die Nahrung, das Wasser, die Luft zum Atmen?“
Levinas führt die Überlegung aus: Wenn es nur mich und den anderen gäbe und ich nicht schuldig werden wolle an seinem Tod, müsste ich im Extremfall mein Leben für das seine geben: Es gebe keine Rechtfertigung für mein Überleben für den Preis seines Todes. Das ist die ethische Perspektive auf die Welt, die ohne die unsichtbare Hand auskommt und die mich radikal in die Verantwortung nimmt. Dieser Blick auf die Welt ist für Levinas prioritär gegenüber allen anderen Sichtweisen. Die Ethik ist für ihn die erste Philosophie.
Doch mit der Umkehrung der Zieldefinition fangen die ethischen Probleme erst an: Es gibt ja viele Nächste. Wie wäge ich zwischen ihnen ab? In welcher Verantwortung stehe ich wem genau gegenüber? Wer braucht mich mehr? Welche Kompromisse muss ich zu wessen Gunsten schließen?
Mit welcher Methodik bekommen wir diese Fragen in den Griff ? Wenn die Intensivstation fast voll ist, welche Patienten werden dann noch aufgenommen? Beende ich die Behandlung von manchen Patienten, um Platz für andere zu schaffen? Wen soll der Algorithmus des autonom fahrenden Autos bei einem Unfall opfern? Den Fahrer oder die Passanten? Und welche Passanten? An welcher Krankheit forschen wir mit welchen Mitteln? Alzheimer oder Malaria?
Bislang haben Unternehmen solche Fragen anhand ökono- mischer Interessen beantwortet. Seit 1995 wurden von privaten Geldgebern jährlich durchschnittlich rund 1,5 Milliarden Dollar in klinische Tests für Alzheimer-Demenz-Medikamente inves- tiert; die jährlichen Investitionen der Industrie in Forschung und Entwicklung zur Bekämpfung von Malaria beliefen sich in den vergangenen 15 Jahren auf ein Zehntel der Summe.
Wir haben es uns angewöhnt, uns selbst aus der philosophischen Weltbeschreibung im Sinne der ökonomischen Optimierungsgleichung herauszukürzen: Sie wurde allgemeingültig und ließ uns ruhig schlafen. Unser Zugang zur ökonomischen Welt beschränkt sich auf die Darstellung und Analyse von neutralen Sachverhalten. Doch das wird bei ethi- schen Fragestellungen nicht ausreichen. Die Entscheidung über das Leben eines anderen Menschen ist eine Entschei- dung, die ich nicht delegieren kann – weder an den Markt noch an einen Algorithmus. Solche Entscheidungen erfordern ein konkretes Subjekt, das individuell Verantwortung über- nimmt.
Die ESG-Kennzahlen können uns das ins Bewusstsein ru- fen. Aber für Entscheidungen, die uns und unsere Gesellschaft ethisch tragen, braucht es mehr: Wir müssten unsere Werte verstehen und die Werte unserer Umwelt. Wir müssten Kompetenzen entwickeln, diese Werte mit den Herausforderungen unserer Zeit ins Gespräch zu bringen. Wir müssten in der Auseinandersetzung mit anderen zu einem Urteil gelangen und für es einstehen. Wir müssten den ethischen Blick einüben und gegen die verengte ökonomische Rationalität verteidigen. Dann gelängen uns vielleicht Entscheidungen, für die wir auch mor- gen noch einstehen können.
Das wird nicht leicht: Die großen Fragen sind unentscheidbar und müssen doch entschieden werden – Aporie der Verantwortung. Für Levinas ist jedoch genau diese Verantwortung der Kern meiner Existenz: Bürde und Würde des Menschseins zugleich.
Erstveröffentlichung: WirtschaftsWoche 41, 7.10.2022