Eigentum als Bürgerrecht? – Philosophische Perspektiven für eine sich virtualisierende Welt

Vortrag im Hayek-Club Frankfurt, 20. November 2023[1]

Der Vortrag auf YouTube. Das Manuskript zum Download.

(1) Eigentum bedeutet Freiheit

„Eigentum [bildet] die Grundlage aller persönlichen Freiheit, Tätigkeit und Selbständigkeit.“[2]

Dieser Satz könnte von Friedrich August von Hayek stammen. Er könnte auch von Immanuel Kant, von John Locke, selbst von Aristoteles stammen. Geschrieben hat ihn aber Karl Marx. – Im Manifest der kommunistischen Partei. Dass Eigentum und Freiheit zusammenhängen, darin waren sich Proletarier und Philosophen aller Länder einig.

Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der den Begriff der Freiheit zum Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie machte, beschrieb diesen Zusammenhang Ende des 18. Jahrhunderts sehr eindrücklich: Wenn ich frei in der Welt handeln will, wenn ich etwas in dieser Welt unternehmen will, wenn ich in ihr nur atmen oder essen will, muss ich Dinge besitzen können. Eigentum an einem Ding aber ist die „Unterwerfung desselben unter unsere Zwecke.“[3] Eigentum bedeutet Kontrolle. Um meine Freiheit zu verwirklichen, muss ich kontrollieren.

Um nun Ihnen die Freiheit und die Kontrolle über die kommenden 45 Minuten nicht völlig zu nehmen und sie dadurch in gewisser Weise zu enteignen, habe ich kein kleines Papier vorbereitet, mit dem Sie mein geistiges Eigentum in 12 Perspektiven oder 12 Parzellen strukturiert schon jetzt in Besitz nehmen können. Sie finden auch einige Zitate auf dem Papier, die uns in den kommenden Minuten begleiten werden. Denn: was ich so eben leichtfertig mein gedankliches Eigentum genannt habe, ist eigentlich das Eigentum anderer. Fußnoten zu Platon, nichts anderes sei die Philosophie des Abendlandes, hielt Alfred Whitehead vor fast einhundert Jahren fest.

(2) Eigentum bestimmt eine Grenze

Wenn ich von Platons Eigentum und meinen Fußnoten spreche, dann sehen wir schon, es geht um Abgrenzungen. Das ist nicht neu. Das wusste schon Jean-Jacques Rousseau:

„Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, es sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: ‚Dieses ist mein‘, und einfältige Leute fand, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft.“[4]

Dieser Satz könnte – vielleicht weniger polemisch – aber dem Inhalt nach auch von Kant, Locke oder vielen anderen stammen. Nach Kant ist Eigentum das, was der andere mir nicht wegnehmen kann, „ohne mich zu lädieren.“ – Ein Zaun hilft dabei.

Der Begriff des Eigenen ergibt nur Sinn, wenn ich es gegen den anderen abgrenzen kann. Eigentum definiert daher eine Grenze innerhalb einer Gemeinschaft. Eigentum ist ein bürgerlicher Begriff. Denn der Naturzustand des Paradieses ist lange vorbei, wir befinden uns längst in der Zeit der Schrebergärten. Auch darüber herrscht breite Einigkeit.

(3) Die (gerechte) Verteilung von Eigentum bleibt umstritten

Über die Frage, wieviel Eigentum jeder haben sollte und wie sich Unterschiede legitimieren lassen, herrscht hingegen keine Einigkeit. Wenn alle Menschen die gleichen Rechte haben und Gott die Erde allen Menschen übereignet hat, wie kann es dann überhaupt sein, dass das Eigentum ungleich verteilt ist?

Darauf hat die Philosophie im Wesentlichen zwei Antworten: Die eine eher naturrechtliche oder „katholische“ Antwort: Eigentum ist das Ergebnis meiner Arbeit, es muss erarbeitet werden. Im Schweiße meines Angesichts. Dieser Gedanke hat eine lange Tradition: Platon, Aristoteles, die mittelalterliche Theologie; selbst noch John Stuart Mill begründete das Eigentum an den Früchten mit der Arbeit des Bauern, was auf direktem Weg zu Marx‘ These der Enteignung des Arbeiters führt. Es prägt den Gedanken der Meritokratie bei den französischen Revolutionären und findet Eingang in die Sozialenzyklika der katholischen Kirche Rerum novarum im Jahr 1891. Auch in den jüngsten Diskussionen um das Bürgergeld finden wir den Gedanken wieder: „Leistung muss sich lohnen“; „Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet.“ – Oder nochmal im Original beim Apostel Paulus, der freilich im politischen Diskurs nicht wörtlich zitiert wird: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ (2 Thess 3,10). Kurz: Eigentum entsteht durch Arbeit.

Die andere Antwort ist eher „protestantisch“ oder vertragsrechtlich: Eigentum ist Gnade, Geschenk oder Zufall. Es stammt ursprünglich aus einem Bund mit Gott, der sehr früh von den biblischen Theologen als Vertrag begriffen wurde. Es ist geschichtlich bedingt (aus einem Gesellschaftsvertrag – und wem der nicht passt, der kann so John Locke ja nach Amerika in den Naturzustand auswandern) oder es ist schlichte Inbesitznahme und anschließende Verteidigung gegen den anderen „soweit die Kanonen reichen“[5], wie Immanuel Kant sagt. Eigentum ist ein Vertrag, der Machtverhältnisse regelt.

Unsere bürgerlichen Gesellschaften regeln Eigentum bei aller Beteuerung, dass sich Arbeit lohnen müsse, vertragsrechtlich. Eigentum ist das, was wir als solches definieren. Man schaue nur auf das Volumen und die geschichtliche Entwicklung im BGB, im französischen Code Civil oder auch im englischen Law of Property Act. Eigentum ist gesellschaftlich bedingt, auch die Emanzipation von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen vollzog sich immer über Eigentumsrechte.

Im viktorianischen England ging das Eigentum der Frau noch mit der Eheschließung auf den Mann über. Und psychisch Kranke, haben wir lange vom Gebrauch ihres Eigentums ausgeschlossen. Wohl nicht zufällig gibt es einen (inzwischen leeren) Teil VIII des englischen Law of Property Act mit dem Titel „Married Women and Lunatics“.

Und für weniger Verrückte (oder Kreative), beschränken wir das posthume Recht auf Eigentum noch immer: Das Urheberrecht schützt Texte und Kunstwerke 70 Jahre lang für die Erben, Tonaufnahmen und Filme 50. Danach ist das Werk von jedem frei nutzbar. Beim Boden, bei Häusern, bei beweglichen Dingen, selbst bei Wertpapieren haben wir hingegen eine Art Erbe für die Ewigkeit. Das hat keine mathematische Logik, sondern ist gesellschaftliche Übereinkunft.

(4) Moralische Begründungen zur Eigentumsverteilung sind – zumindest aus liberaler Perspektive – schwierig

Man könnte hinter der Ungleichverteilung und auch hinter den unterschiedlichen Rechten moralische Probleme vermuten, doch die gibt es aus liberaler Perspektive nicht. Während Marx, in gewisser Weise katholisch, ein moralisches Argument der Werkgerechtigkeit anführt, um darauf zu beharren, dass es die Arbeit ist, die den Mehrwert und damit das Eigentum erst schafft und dass daher auch den Arbeitern der Wert zusteht, schlagen sich Liberale wie Friedrich von Hayek oder auch Milton Friedman auf die Seite von Kant oder Locke und der protestantischen Gnadenidee.

Friedman schrieb in den 1930er Jahren, dass die Eigentumsrechte eher komplexe soziale Konstrukte sind denn selbsterklärende Tatsachen. Was Eigentum ist und wer Eigentum besitzen darf, sei ein Prozess schwieriger gesellschaftlicher Aushandlungen.[6]

Ethische Begründungen für die Verteilung von Eigentum überzeugen die liberalen Gründerväter nicht. Ihre Argumente scheinen dabei so schlicht wie schlagend: (1) Der Besitz von angeborenen Talenten ist nicht von persönlichen Verdiensten abhängig. Warum sollte es also bei anderem Eigentum anders sein? (2) Man bräuchte zur Beurteilung der Verdienste des Einzelnen Wissen, das es in einer freien Gesellschaft so nicht geben sollte. (3) Und die Meritokratie setze schlicht die falschen Anreize; dazu Hayek: 

„Wir wollen nicht, dass die Menschen ein Maximum an Verdienst erlangen, sondern ein Maximum an Nützlichkeit zu einem Minimum and Schmerz und Opfer, und daher einem Minimum an Verdienst.“[7]

Im Gesamtinteresse sei es sinnvoller, dass die Menschen ohne viel Anstrengung viel erreichen. Warum? – Sie haben dann noch Zeit, andere Dinge zu tun und dort ebenfalls etwas zu erreichen.  Kurz: Einkommen und daraus resultierendes Eigentum haben mit Moral nichts zu tun. Milton Friedman wies alle ethischen Perspektiven zurück, und verstand Eigentum einzig als Mittel zum Zweck. Und dieser Zweck war die Verteidigung der Freiheit.[8]

(5) Verteiltes Eigentum ist der Garant von Pluralität

Doch nicht nur die Verteidigung meiner Freiheit. Hayek schreibt im Weg zur Knechtschaft:

„Unsere Generation hat […] vergessen, dass das System des Privateigentums die wichtigste Garantie für die Freiheit ist, und zwar nicht nur für diejenigen, die Eigentum besitzen, sondern auch fast ebenso sehr für die, die keines haben. Allein aus dem Grunde, weil die Herrschaft über die Produktionsmittel sich auf viele Menschen verteilt, die unabhängig voneinander handeln, sind wir niemandem ausgeliefert, so dass wir als Individuen entscheiden können, was wir tun und lassen wollen.“[9]

Das findet vermutlich breite Zustimmung. – Aber würden Sie sich auch vor einen Obdachlosen am Hauptbahnhof stellen und ihm ins Gesicht sagen: Mein Eigentum ist die wichtigste Garantie für Deine Freiheit? – Der Gedanke ist radikal. Wenn man das nicht zynisch lesen will, muss man diese Aussage als ein Plädoyer für den Pluralismus lesen. Nur weil Eigentum – und dadurch auch Macht – sich auf viele verteilt, gibt es Freiheit für alle. Nochmals Hayek:

„Befänden sich sämtliche Produktionsmittel in einer einzigen Hand – mag dies nun dem Namen nach die „Gesellschaft” als Ganzes oder mag dies ein Diktator sein  – , dann hätte derjenige, der gerade diese Herrschaft ausübt, uns vollständig in seiner Gewalt.“[10]

Marx hätte diesen Satz wohl unterschreiben können. Denn auch er fürchtete in der Konzentration des Eigentums in den Händen weniger eine „monopolisierbare gesellschaftliche Macht“[11].

Liberale und Linke sind sich darin einig, dass Eigentumsfragen Machtfragen sind. Die Verteilung von Eigentum muss der Bedingung genügen, dass sie Macht ausreichend verteilt. Über das Wie wird freilich gestritten. Und doch, so würde ich hoffen, lassen sich aus unseren bisherigen Überlegungen drei konsensfähige Kriterien ableiten, die Eigentum als Mittel zum Zweck, als Instrument für eine freie Gesellschaft erfüllen muss: (1) Es erlaubt mir, frei ohne Zwang in der Gesellschaft zu handeln. (2) Es ist auf viele Einzelne verteilt. (3) Und deshalb gewährleistet es eine Pluralität der Zielfunktionen und eine plurale Gesellschaft.

6) Eigentum hat einen doppelten Charakter

Doch Eigentum ist nicht gleich Eigentum. Schon bei Fichte findet sich ein denkwürdiger Doppelcharakter. Für ihn war Eigentum die Bedingung der freien Gestaltung meines Lebens und der Bestreitung meines Lebensunterhaltes. Doch Fichte kennt auch eine andere Seite: Eigentum ist die Möglichkeit, nicht mehr arbeiten zu müssen: 

„Wir haben gefunden: Eigentum bedeute eigentlich Freiheit; Muße, durch Arbeit erworben.“[12]

Und wenn wir uns hier so umschauen, dann hatte Fichte Recht. Wir sehen den bürgerlichen Salon, wo Literatur rezitiert und Musik aufgeführt wird. Bürgerliches Eigentum garantiert die Erhebung des Menschen. Die bürgerliche Menschheit sitzt bei einem Glas Wein in einem getäfelten Saal und vervollkommnet sich in feingeistigen Tätigkeiten wie dem Lauschen von philosophischen Vorträgen über die Frage des Eigentums. Eigentum ist sowohl Freiheit zur Arbeit als auch Freiheit von der Arbeit. Aber – hier war Fichte, obwohl Protestant, dann doch katholisch – nur, wenn sie vorher erarbeitet wurde.

Auch Milton Friedman bringt in seinem Argumentationsgang für die Abwehr von Gleichheitsansprüchen und die Verteidigung der Freiheit verschiedene Eigentums-Sachverhalte vor, die an den Doppelcharakter von Eigentum anschließen: ein angeborenes (ererbtes) Talent wie eine schöne Stimme; eine erworbene Fähigkeit wie eine Berufsausbildung; und eine angelegte Summe Geld.[13] Den einfachsten und klarsten Fall von Eigentum erwähnt er nicht: ein Stück Boden oder ein Werkzeug.

Doch all jene Sachverhalte, die nicht nur Friedman, sondern wir alle leichtfertig „Eigentum“ nennen, sind höchst unterschiedlich. Drei Fälle lassen sich unterscheiden und müssen unterschieden werden, weil unterschiedliche Rechte daraus folgen: 

(1) Mit dem angeborenen Talent oder der Ausbildung kann nur ich etwas anfangen. Ich kann sie als solche nicht veräußern. Ich kann daraus nur Einkommen generieren, indem ich sie einsetze und mich dafür bezahlen lasse; aber ich darf, kann und muss damit arbeiten. Ich besitze sie zwar, muss sie aber gegenüber niemandem verteidigen. Ich brauche keinen Zaun. Sie sind mir in einer Art eigen, die kein Eigentumsrecht braucht.

(2) Den Boden und das Werkzeug kann ich nutzen, um damit zu arbeiten wie mit meiner Stimme und meinen Fertigkeiten; ich kann sie aber auch verkaufen und direkt zu Geld machen. Mein Eigentumsrecht ist ein Abwehrrecht. Der andere hat darauf keinen Zugriff. – Daran denkt die Mehrheit der Philosophen, wenn sie aus dem Recht auf Freiheit, eines auf Eigentum ableiten und dieses um der Freiheit willen verteidigen.

(3) Mit der angelegten Summe Geld schließlich kann ich gar nicht arbeiten. Ich kann es ausgeben, um mir ein Werkzeug zu kaufen, ein Stück Boden oder auch einfach nur etwas Schönes. Oder ich lege es an und lasse es arbeiten. Mein Eigentumsrecht ist kein Abwehrrecht, sondern ein Anspruchsrecht. Ein Anspruch an ein anonymes Es, das für mich arbeitet.

(7) Als Vertragsrecht lässt sich Eigentum virtualisieren

Seit wann kann man eigentlich sein Geld für sich arbeiten lassen? Und vor allem, was tut das Geld, wenn es arbeitet? – Finanzierungs- und Zinsgeschäfte gibt es schon lange, wie das biblische Zinsverbot zeigt. Doch in der Geschichte der Menschheit waren diese Geschäfte immer eng rückgebunden an das, was das englische Recht real property nennt, an Grundstücke, Werkzeuge, Ausrüstung, Arbeitsleistung und an real-wirtschaftliches Unternehmertum und dessen Erfolg.

Was es noch nicht so lange gibt, ist die Möglichkeit, echtes Eigentum an Produktionsmitteln wie Geld oder Schuldscheine zu tauschen. Begonnen hat das in großem Stil mit dem florierenden Ostindien-Handel zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Kaufleute taten sich zusammen, um ein Schiff und eine Mannschaft zu finanzieren und ließen sich zunächst durch einen Anteil an den nach Europa gebrachten Waren bezahlen. Man teilte sich den Ertrag und das Risiko – denn nicht wenige Schiffe kamen nicht zurück.

Die Revolution geschah aber vor genau 400 Jahren, als man diese Anteilsscheine an der Amsterdamer Börse erstmals handeln konnte. Die Dutch East India Company gilt als erste börsennotierte Kapitalgesellschaft. Die Kaufleute mussten nicht mehr auf die Rückkehr der Schiffe warten, um die materielle Rendite ihrer Investition zu erhalten. Sie konnten ihre Anteile verkaufen und die Rendite schon vorher realisieren.

Beim Schuldschein wusste man genau, was der Schuldner zu bezahlen hatte. Nun wusste man nicht mehr genau, wie die Rückzahlung aussehen würde. Man hatte ein unternehmerisches Risiko aus Produktion und Absatz in einen Vertrag gegossen, in das Finanzsystem überführt und dort bewirtschaftbar gemacht. Zwei entscheidende Faktoren haben zum Erfolg dieses Modells beigetragen: (1) Eigentum war auf einmal liquide. Und (2) meine Haftung war begrenzt. Im Fall der Pleite war mein übriges Vermögen geschützt.

Der Politik und den Regulierern der damaligen Zeit war das nicht wirklich recht. Auch Adam Smith zeigte sich eher reserviert. So war zwar in England die Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung bereits ab 1553 möglich, die Kosten jedoch so prohibitiv hoch, dass nur hochriskante Unternehmungen wie eben der Ostindienhandel oder solche mit hohem Kapitalbedarf wie der Ausbau der Eisenbahnen diese Rechtsform wählten. Im Standortwettbewerb um Investitionen brachen erst Mitte des 19. Jahrhunderts die Dämme, und die Rechtsform der Limited Company wurde zunächst in England 1855, dann in Frankreich 1863 mit der Société à responsabilité limitée und schließlich im Deutschen Reich 1892 mit der GmbH, der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, eingeführt.

(8) Die Virtualisierung entfremdet den Eigentümer von seinem Eigentum

Man trennte das Unternehmen vom Unternehmer. Eigentum und Kontrolle der Produktionsprozesse entwickelten sich in modernen Großunternehmen auseinander, was ein vieldiskutiertes Thema in der Ökonomie der 1930er und 40er Jahre wird.[14] Die neue Art von Eigentum provozierte neue philosophische, ökonomische, aber auch juristische Diskussionen über das, was Eigentum eigentlich sei. Die Ökonomie entwickelte die moderne Unternehmensgovernance und trennte begrifflich wie juristisch Eigentum von der Kontrolle darüber. Die unsichtbare Hand des Marktes, die im Wettbewerb die vielen Kleinunternehmer lenkte, wird durch Managementstrukturen in Großunternehmen abgelöst, die an einem freien Markt wenig Interesse haben. Die Zeit der großen Monopole bricht an.

Für den amerikanischen Philosophen James Burnham hatte dieser Aufstieg des Managements sogar revolutionären Charakter. Er schreibt ein Buch mit dem Titel: The managerial revolution, das eine der Inspirationsquellen für George Orwells 1984 war.

In seiner Lesart vollendet das Management die ausgebliebene Revolution des Proletariats. So wie die Kapitalisten oder die Bourgeoisie gegen den Adel um die Vorherrschaft im Staat kämpften, so zeichne sich ein Kampf der Manager um eben diese Vorherrschaft in der nach-kapitalistischen Gesellschaft ab. Burnham hat für die Idee, dass man Eigentum und Kontrolle trennen könne, wenig übrig: 

»Ownership means control; if there is no control, then there is no ownership.«[15]

Wir erinnern uns. Das Hauptargument der Philosophen bis dahin war ja gewesen: Ohne Kontrolle über die Welt um mich herum, kann ich nicht leben oder frei sein. Daher muss es Eigentum geben. Da ich zur Freiheit Kontrolle über mein Leben und die Welt um mich herum brauche, brauche ich Eigentum.

Daher spottet Burnham auch in schönster Engels’scher Manier über Eigentümer ohne Kontrolle:

»They spend their time, not in industry or even in finance, but on yachts and beaches, in casinos and travelling among their many estates; […] To rule society, let it be remembered, is a full-time job.«[16]

Burnham wendet sich gegen die von Managern geführte Wirtschaft, weil er eine staatlich gelenkte Planwirtschaft aufkommen sah, in der der Staat das Geld bereitstellt, sich die Manager mit den Arbeitern verbünden und das Ende des freien Unternehmertums und der freien Gesellschaft droht.

Doch er hatte die Macht von Eigentum oder das Eigentum von Macht unterschätzt, selbst wenn sich die Eigentümer auf Yachten und in Casinos herumtrieben. Die Geschichte ist weit komplexer, aber wir kürzen ab: Alfred Rappaport erfand den Shareholder Value Added und hielt das Management auf Kurs der Eigentümer. Mit Anreizstrukturen und Aktienprogrammen werden die Interessen der Manager und der Eigentümer intrinsisch verwoben auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Mehrung des Eigentums. Die Konsequenz ist ein Satz Milton Friedmans, den wir auch alle gut kennen: „The business of business is business.“[17] Wo Eigentum und Kontrolle auseinanderfallen, kann es nicht mehr die Freiheit des Unternehmers geben.

Der entfremdete Unternehmer wird zum Investor, der nicht mehr Eigentümer seines einzigen und eigenen Unternehmens ist, sondern der sein Eigentum auf viele verschiedene Unternehmen verteilt, um sein Risiko zu streuen. Und heute stehen jedem von uns eine Vielzahl von Investitionsvehikeln zur Verfügung, die von dem, was wir Finanzindustrie nennen, verwaltet werden. Jeder kann Investor werden, jeder kann sein Risiko streuen. 

Wenn Sie einen synthetischen DAX-ETF besitzen, dann hat man Ihnen zwar die Rendite des deutschen Aktienindex versprochen und diese auch abgesichert, doch das Sicherungsvermögen des Fonds kann aus Wertpapieren aus aller Herren Länder bestehen. Sie haben einen Vertrag über die Zahlung einer Rendite. Ihr Vertragspartner, der Fonds, hat auch nur einen Vertrag über die Zahlung einer Rendite. Selbst eine Aktie ist letztlich nichts anderes: nur ein Vertrag über die Zahlung einer Rendite.

Wer in den Index kommt und was Sie dementsprechend Ihr Eigentum nennen, entscheiden Analysten und Managementgremien von Banken, Investmentfonds und Börsen. Die Umsetzung im kontinuierlichen Handel liegt beim Computer. Die Struktur Ihres Eigentums ändert sich im Millisekundentakt. Und im selben Takt ändern sich Eigentümerstrukturen.  Eigentum hat sich in zahllose Einzeltransaktionen aufgelöst, so schnell können Sie gar keine Zäune mehr bauen.

Wenn Sie eine Kryptowährung besitzen, haben Sie noch nicht einmal mehr einen Vertragspartner. Sie haben nur eine Blockchain, und einen Handelsplatz – wenn es ihn noch gibt.

Und über diverse Mitarbeiter- und Volksaktien, Lebensversicherungen und kapitalgedeckte Altersvorsorgeprogramme steht jedem – auch dem Arbeiter – zumindest theoretisch der Kapitalmarkt offen. – Haben wir also über die Virtualisierung des Eigentums Freiheit für jeden geschaffen? Eine klassenlose Gesellschaft? Sollten wir tatsächlich über die Finanzmärkte Kommunismus und Kapitalismus versöhnt haben?

(9) Die Virtualisierung erlaubt eine gnadengleiche Eigentumsmehrung

Nun ja. Um das zu verstehen, müssen wir verstehen, wie Finanzeigentum eigentlich funktioniert, und warum es Zins gibt. Für Marx war er Teil der Wertschöpfung der Arbeiter, der enteignet wurde. Für Schumpeter war er Teil es Unternehmerlohns, der für die Bank abgespalten wurde. Doch ihnen ist entgangen – wenn den beiden überhaupt etwas entgehen konnte –, dass die Finanzierung einen Wert schafft, den es vorher nicht gab: Mein Eigentum wird in Zeit und Raum liquide. Das heißt, ich kann zeitlich über es bestimmen und ich kann es aufteilen, um mein Risiko zu diversifizieren. Ich gewinne eine Kontrolle, die ich vorher nicht hatte. Und Kontrolle bedeutet Eigentum.

Investoren verdienen ihr Geld damit, dass sie zwischen verschiedenen Zeithorizonten und verschiedenen Investitionsräumen vermitteln. Da muss niemand für arbeiten. Eigentum vermehrt sich gnadengleich. Wenn Ihnen ein Finanzinvestor heute den Weizen abkauft, den Sie im kommenden Sommer ernten, dann übernimmt er das Preisrisiko. Wenn er ihn auch heute bezahlt, dann verschiebt er eine Zahlung, die Sie erst in der Zukunft erwarten können, auf heute. Für beides verlangt er eine Verzinsung.

Nun hat schon Irving Fisher, der Gründungsvater der modernen Zinstheorie, beschrieben, dass man sich sowohl Zeit wie auch Risiko leisten können muss.[18] Wer bereits viel Vermögen hat, kann kurzfristig auf Einkommen verzichten. Wenn Sie nur 1.000 Euro ihr Eigen nennen, dann werden Sie nicht in ein Tech-Startup investieren, sondern das Geld auf ein Sparbuch legen, damit Sie im Fall der Fälle die Reparatur des Autos oder eine neue Waschmaschine bezahlen können.

Erst wenn Sie so viel Ihr Eigen nennen, dass Sie einen Teil auf die Seite legen können, ohne ihn morgen eventuell zu brauchen, können Sie Risiken auf sich nehmen. Je mehr Sie haben, desto größer das Risiko, das Sie nehmen können. Nicht von ungefähr investieren die reichen Familien, die sich um das Alltägliche und auch das Außergewöhnliche nicht sorgen müssen, über ihre Family Offices in hochriskante Geschäfte wie Lithium-Minen, künstliche Intelligenz oder die Reise zum Mars.

Und der Witz ist: Wenn Sie viele hohe Risiken kombinieren, sinkt Ihr Gesamtrisiko, aber die durchschnittliche Rendite tut es nicht. Das ist keine Verschwörungstheorie, das hat auch nichts mit individuellen Präferenzen zu tun, auch nichts mit Gnade oder Leistung, das ist reine Mathematik. Und diese Mathematik wird von Finanzinvestoren aktiv genutzt. Es gibt Studien, die zeigen, dass rund ein Drittel des Wertgewinns, den Private Equity Unternehmen generieren, aus dem sogenannten financial leverage stammt.[19] Die Investoren verschieben das Verhältnis von teurem Eigenkapital zu günstigem Fremdkapital. So bleibt pro investiertem Euro mehr Gewinn übrig. Sie erhöhen ihr spezifisches Risiko in dem einen Unternehmen, weil sie als Eigenkapitalgeber die volle unternehmerische Schwankungsbreite nun mit weniger Kapital abfedern, gleichen es aber über ihr Portfolio über viele Unternehmen wieder aus.

Doch jedes einzelne Unternehmen hat nun weniger Puffer für den Fall, dass etwas schiefgeht. In dem Fall haben Kreditgeber, Lieferanten, Kunden und Mitarbeiter das Nachsehen, aber auch die Allgemeinheit über Kreditversicherungen der Banken, Insolvenzgeld der Arbeitsagenturen oder auch den Ausfall von Steuern. Da am Ende alle über diverse Vertragskonstrukte miteinander verbunden sind, funktioniert dieser Hebel nur bis zu einer gewissen Zeit-Risiko-Schwelle des Gesamtsystems. Bevor er die Welt aus den Angeln heben kann, bricht er. Sobald Zweifel aufkommen, ob die echte Welt die Zahlungen, die sich in den Finanzwerten niederschlagen, noch leisten kann, und sobald wir nicht mehr wissen, an wen wir uns wenden sollen, kommt es zu dem, was wir Krise nennen. 

Denn, so Hayek: 

So wie jedermanns Eigentum niemandes Eigentum ist, so ist auch jedermanns Verantwortung niemandes Verantwortung.[20]

Finanzkrisen sind Verantwortungskrisen. Wir sehen niemanden mehr, der Verantwortung für die versprochenen Werte übernimmt.

(10) Virtuelles Eigentum findet seine Grenze in der Realität

Nun erfüllt Finanzeigentum einen bestimmten Zweck in der Wirtschaft einer Gesellschaft: Risikoverteilung und Zeitverteilung. Das Problem ist, dass wir es längst nicht mehr als Mittel zum Zweck einsetzen, sondern dass es die Kontrolle übernommen hat.

Das McKinsey Global Institute (MGI) berechnet regelmäßig eine Bilanz der Weltwirtschaft. [21] Darin wird das Verhältnis von echten Anlagen und echter Wirtschaftstätigkeit ins Verhältnis zu Aktien und anderen Wertpapieren gesetzt: Für die USA als größte Volkswirtschaft lässt sich zeigen, dass der Wert von Aktien seit 1995 dreimal so schnell gewachsen ist wie die Gesamtwirtschaft. Der Wert von Geld- und Sparguthaben doppelt so schnell, und der Wert von Krediten und Immobilien immerhin noch um das 1,5-fache. – Man könnte also davon sprechen, dass wir die Bilanz aufgebläht haben.

Der Effekt ist in den USA auf zwei Elemente zurückzuführen: Die gesunkenen Zinsen, die schlicht die Bewertung der zukünftigen Gewinne erhöhen. Und eine relative Verteilung der Wirtschaftsleistung weg von Löhnen hin zu Unternehmensgewinnen. In Deutschland ist der Effekt ausschließlich auf die gesunkenen Zinsen zurückzuführen, die Aktienwerte sind aber auch nur knapp doppelt so schnell gewachsen wie das Bruttoinlandsprodukt.

Wenn Sie aber durch Finanzinvestitionen schneller wachsen können als durch reale, dann kaufen Sie keine Maschinen mehr, sondern Ihre Konkurrenten. Die Investitionen in das, was Marx die Produktionsmittel genannt hätte, lagen in Europa und den USA zwischen 1990 und 2008 fast immer zwischen knapp 6 und gut 8% des Bruttoinlandprodukts. 2010/11 sind sie dramatisch auf 2% gefallen und seither nie wieder über 5% gestiegen.

Umgekehrt zählte man 1990 weltweit noch etwa 10.000 Übernahmen von Unternehmen, 2021 waren es fast sechsmal so viele.[22] Und wenn die Zinsen niedrig sind, machen Sie das auf Pump. Für jeden investierten Dollar wurde ein Kredit über $1,90 aufgenommen.

Financial leverage. Ende 2021 war die Gesamt-Verschuldung in den Vereinigten Staaten, Japan, China und allen großen europäischen Volkswirtschaften mit Ausnahme von Deutschland im Verhältnis zum BIP nicht nur höher als im Jahr 2000, sondern stieg sogar gegenüber dem Höchststand nach der globalen Finanzkrise von 2008 nochmals an.

Anstrengungsloser Wohlstand? Reine Gnade? Ausdruck von Freiheit und Muße? – Nun ja, nur bedingt. Aus diesem Wohlstand für die einen resultieren Ansprüche an andere. Ansprüche an diejenigen, die in Zukunft arbeiten und unternehmerisch tätig sind.

(11) Virtuelles Eigentum fordert seine Realisierung ein

Nicht nur die Kredite der Unternehmen und Privathaushalte müssen in der Zukunft zurückgezahlt werden, wofür die Unternehmen Gewinne machen und die Menschen ordentlich bezahlen müssen. Auch damit Ihre Aktien so viel wert sind, wie sie wert sind, damit die Rente, die Sie aus ihrem Versorgungswerk beziehen wollen, die Renditeerwartung erfüllt, damit Ihre Lebensversicherung und Ihr Riesterfonds eine entsprechende Performance aufweisen – für all das muss die Volkswirtschaft mehr Wert schaffen. Und zwar auf katholische Art: arbeiten und unternehmen.

Um die Vermögenswerte annähernd zu erhalten, bräuchten wir in den kommenden 10 Jahren doppelt so viel Wirtschaftswachstum wie in den vergangenen 10. Also 4% statt 2%. Da das offenbar selbst McKinsey unrealistisch erscheint, weist das MGI einen Kompromiss als präferiertes Szenario aus: 3% Wachstum und eine Inflation, die 1% höher ist als das Zentralbankziel. Die Arbeitenden müssen es also richten, damit die Vermögenswerte der Nicht-Arbeitenden erhalten bleiben. Da könnte man glatt Marxist werden. 

Oder Hayekianer. Denn für Hayek bestand Freiheit in der Abwesenheit von äußerem Zwang. Und Zwang war für ihn 

„die Kontrolle der Umwelt oder der Umstände einer Person durch eine andere, so dass sie, um Schlimmeres zu vermeiden, gezwungen ist, anstatt nach ihrem eigenen Plan nach den Zielen der anderen Person zu handeln.“[23]

Das beschreibt unsere heutige Situation recht gut. Und wenn Sie sich diesem Zwang nicht ausgesetzt fühlen, schauen Sie morgen mal auf ihr Kennzahlen-Tableau oder in Ihre Zielvereinbarung. Wir folgen alle einer einheitlichen Logik, Rappaport lässt grüßen: die Erhöhung der Rendite des Eigenkapitals, das aber längst kein eigenes Kapital mehr ist, sondern wie das Fremdkapital eine Form der Finanzierung, die jedoch am Unternehmensrisiko in besonderer Form Anteil nimmt.[24]

Als solche Finanzierungsform wird es aber den drei Kriterien, die wir vorhin mit Hayek für die Rolle des Eigentums in einer liberalen Gesellschaft identifiziert haben, nicht mehr gerecht. Rufen wir sie uns kurz in Erinnerung: (1) Eigentum erlaubt mir, frei ohne Zwang in der Gesellschaft zu handeln. (2) Es ist auf viele Einzelne verteilt. Und deshalb gewährleistet es (3) eine Pluralität der Zielfunktionen.

In der virtuellen Welt aber handelt jemand anders an meiner statt: Institutionelle Investoren, Rating-Agenturen, Manager, Computer. Das Eigentum ist konzentriert auf wenige Akteure. Die Aktien der DAX-Unternehmen gehören nur zu 15 Prozent Einzelaktionären; mehr als 60 Prozent werden von institutionellen Investoren gehalten. Und es folgt der einheitlichen Logik der ständigen Selbstvermehrung. Es gibt keine Pluralität der Ziele.

(12) Eigentum ist kein Selbstzweck, Freiheit aber auch nicht

Für Hayek war das verteilte Eigentum der Garant einer freien Gesellschaft, nicht zuletzt, weil die Eigentümer es für andere Dinge als die Mehrung ihres Wohlstands einsetzen würden: 

„Der wirtschaftlich unabhängige Mann ist von noch größerer Bedeutung für die freie Gesellschaft, wenn er sein Kapital nicht einsetzt, um materiellen Wohlstand zu erreichen, sondern wenn er es für Ziele einsetzt, die keine materielle Rendite bringen.“[25]

Sogar die Möglichkeit, dem anderen zu helfen, sieht Hayek in der Freiheit, die das Eigentum gibt, grundgelegt: 

„Wer kann im Ernst daran zweifeln, dass ein Angehöriger einer kleinen ethnischen oder konfessionellen Minderheit auch ohne Eigentum dann, wenn die übrigen Mitglieder seiner Gemeinschaft Eigentum besitzen und daher in der Lage sind, ihn zu beschäftigen, freier sein würde als dann, wenn das Privateigentum abgeschafft und er Eigentümer einer nominellen Quote des Gesamteigentums wäre?“[26]

Eigentum war daher für Hayek an Verantwortung in menschlicher Gemeinschaft rückgebunden, an die Verantwortung für den anderen. Denn: 

„Es gehört zur Natur des Mannes (und vielleicht noch mehr der Frau) und bildet die Hauptgrundlage seines Glückes, dass er das Wohlergehen anderer zu seiner Hauptaufgabe macht.“[27]

Dass uns das Wohlergehen der anderen mehr angeht als die eigene Freiheit, lernt man, wenn man selbst Angestellte hat, Kunden, Lieferanten und auch für deren Wohlergehen verantwortlich ist. Man lernt es nicht hinter den Bildschirmen, auf denen die virtuellen Finanzmärkte mit der Realität kommunizieren. Doch da sich immer mehr Menschen, um das virtuelle Eigentum kümmern, kümmern müssen, gerät unsere reale Freiheit in Gefahr. Vor allem die Freiheit des anderen, desjenigen, der nichts hat, weil er kein Geld für sich arbeiten lassen kann, sondern für das Geld arbeiten muss. 

Virtuelles Eigentum in den Dimensionen, von denen wir heute sprechen, gefährdet die freie und plurale Gesellschaft, weil es Verantwortung verwässert und doch Macht ausübt. Wir erinnern uns an Hayek: 

„Befänden sich sämtliche Produktionsmittel in einer einzigen Hand – mag dies nun dem Namen nach die „Gesellschaft” als Ganzes oder mag dies ein Diktator sein“ – und ich [C.L.] möchte ergänzen: ‚oder der Kapitalmarkt‘ – „dann hätte derjenige, der gerade diese Herrschaft ausübt, uns vollständig in seiner Gewalt.“[28]

Das Problem für die Freiheit ist aus liberaler Perspektive erst einmal nicht, dass manche arm und manche reich sind. Das Problem für die Freiheit entsteht durch die Konzentration des Eigentums in den Händen weniger. 

Es gibt Studien, dass einem Tausendstel der Weltbevölkerung 80% des Vermögens gehören. Das würde heißen, jeder Tausendste hätte 4000 mal soviel wie die 999 anderen.[29] Diese Studien unterstellen einen großen Anteil nicht deklarierten Vermögens, dass auf Offshore-Konten lagert. Folgt man dem Bericht der Schweizer Bank UBS,[30] die nur von deklariertem Vermögen ausgeht, so erhält man noch rund 13% des Vermögens in den Händen der 0,1%, doch auch das ist noch fast ein Faktor von 4000 gegenüber den 50% der Weltbevölkerung, die gerade einmal 2% des weltweiten Vermögens ihr Eigen nennen.

Es gab Zeiten, zu denen man solche Verhältnisse Feudalismus nannte.

Ein letzter Gedanke

Gestatten Sie mir zum Abschluss einen letzten Gedanken. Außerhalb der 12 Parzellen, die wir in den letzten Minuten gemeinsam ausgemessen haben. Das Bild, das Sie auf dem Deckblatt Ihres Handouts sehen, ist das Gleichnis vom reichen Kornbauern von Rembrandt. Er malte es 1627, vier Jahre nach der Einführung des Aktienhandels an der Amsterdamer Börse. Es ist nicht groß, etwa DIN A3-Format, und stellt eine Person aus einem Gleichnis aus dem Lukas-Evangelium dar: 

„Auf den Feldern eines reichen Mannes stand eine gute Ernte. Da überlegte er hin und her: Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll. Schließlich sagte er: So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen. Dann kann ich zu mir selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?“ (Lukas 12, 16-20)

Die christliche Spiritualität zog aus dieser Einsicht die Konsequenz, dass Armut Freiheit bedeute, nicht Eigentum. Der mittelalterliche Theologe Meister Eckhart fragt in seiner Predigt Beati sunt pauperi spiritu – Selig sind die Armen im Geist, wie man wahrhaft arm und frei werde. Und er kommt zu dem Schluss, dass nur derjenige frei für Gott ist, der wahrhaft nichts hat, nichts weiß und nichts will.

Wissen und Wollen waren für Eckhart in gewissem Sinne die Kanonen des Verstandes, mit denen dieser nach Besitz greift, und die Zäune, die den geistigen Besitz in Parzellen ordnen, um den anderen rauszuhalten. Nur wenn ich nichts habe, nichts weiß und nichts will, gibt es aber um meinen Besitz keine Zäune mehr, die Gott zurückhalten könnten. 

Der Rousseau’sche Zaun hat eine Bedeutung in der bürgerlichen Gesellschaft. Es gibt aber eine Perspektive auf Freiheit und Glück, die nicht bürgerlich ist und die nicht von Eigentum bestimmt ist. – Doch das war heute Abend nicht unser Thema. – Ich danke Ihnen.


[1] Der Vortrag wurde für die schriftliche Fassung um Quellenhinweise ergänzt und an einigen Stellen zur leichteren Lesbarkeit angepasst. Weitere Texte des Autors sind zu finden unter www.carstenlotz.de.

[2] Marx, Karl. Manifest der Kommunistischen Partei. Dietz Verlag, 1974, Teil II.

[3] Johann Gottlieb Fichte. Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, Bd. 3, § 11, S. 117.

[4] Jean-Jaques Rousseau. Diskurs über die Ungleichheit. UTB 2008, 173.

[5] Kant, Immanuel. Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Berlin: Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“, I §15.

[6] Vgl.: Friedman, Milton, und Rose D. Friedman. Capitalism and Freedom. 40th Anniversary Edition. University of Chicago Press, 1982, Kap. II.

[7] Hayek, Friedrich A. von. The constitution of liberty: the definitive edition. The collected works of F. A. Hayek, v. 17. Chicago: University of Chicago Press, 2011, Kap. 6.7. Eigene Übersetzung.

[8] Vgl.: Friedman, Capitalism and Freedom, Kap. X.

[9] Hayek, Friedrich A. von. The Road to Serfdom: With the Intellectuals and Socialism. Combined edition, First published. Occasional Paper 136. London: iea, The Institute of Economic Affairs, 2005, Kapitel 8.

[10] Ebenda.

[11] Marx. Manifest der Kommunistischen Partei, Teil II.

[12] Fichte, Johann Gottlieb, und Richard Schottky. Rechtslehre: Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2017, Zweiter Teil, Kap. 3.1.

[13] Vgl. z.B.: Friedman, Capitalism and Freedom, Kap. X.

[14] Vgl. z.B. den Klassiker aus dem Jahre 1932: Berle, Adolf A., und Gardiner C. Means. The modern corporation and private property. New Brunswick, N.J., U.S.A: Transaction Publishers, 1991.

[15] Burnham, James. The managerial revolution: what is happening in the world. London: Putnam and Company, 1942, Kap. 7.

[16] Burnham. The managerial revolution, Kap. 8.

[17] Vgl. Friedman, Milton. „A Friedman doctrine‐- The Social Responsibility Of Business Is to Increase Its Profits“. New York Times, 13. September 1970.

[18] Fisher, Irving. The Theory of Interest: As Determined by Impatience to Spend Income and Opportunity to Invest It. New York, NY : Macmillan, 1930, Kap. IX, §3.

[19] Vgl. z.B.: Achleitner, Ann-Kristin, Reiner Braun, Nico Engel, Christian Figge, und Florian Tappeiner. „Value Creation Drivers in Private Equity Buyouts: Empirical Evidence from Europe“. The Journal of Private Equity 13, Nr. 2 (2010): 17–27.

[20] Hayek. The constitution of liberty, Kap. 5.7.

[21] Vgl.: McKinsey Global Institute. „Global Balance Sheet: The future of wealth and growth hangs in the balance“, Mai 2023. https://www.mckinsey.com/mgi/overview/the-future-of-wealth-and-growth-hangs-in-the-balance#at-a-glance.

[22] https://imaa-institute.org/mergers-and-acquisitions-statistics/

[23] Hayek. The constitution of liberty, Kap. 1.7.

[24] Die Möglichkeit der Einflussnahme über die Hauptversammlung bleibt eine Theorie, wo die Mehrheit dieses Kapitals von anderen verwaltet wird. 

[25] Hayek. The constitution of liberty, Kap. 8.6.

[26] Hayek, Friedrich A. von. The Road to Serfdom, Kap. 8.

[27] Hayek. The constitution of liberty, Kap. 5.5.

[28] Hayek, Friedrich A. von. The Road to Serfdom, Kap. 8.

[29] Vgl. dazu: https://www.taxjustice.net/cms/upload/pdf/
The_Price_of_Offshore_Revisited_Presser_120722.pdf

[30] Vgl.: Crédit Suisse Research Institute, Hrsg. Global Wealth Report 2022.