Die Reparaturgesellschaft

Vor 50 Jahren hat der französische Soziologe Jean Baudrillard „Die Konsumgesellschaft“ als Ökonomie der Stimulation, des Immerneuen und des Überflusses seziert. Damit ist es heute vorbei. Wir sind „in die Jahre gekommen“ – und befinden uns auf dem Weg in die „Reparaturgesellschaft“.

Als Jean Baudrillard 1970 über die Konsumgesellschaft schrieb, blickte er auf fast 30 Jahre kontinuierlichen Wirtschaftswachstums zurück. Die französischen Trente Glorieuses, die glorreichen Dreißig, hatten das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf vervierfacht und einen bis dato ungekannten Wohlstand geschaffen. Der Begriff „Wunder“, wie ihn die Deutschen für ihre Wirtschaftsentwicklung verwendeten, mochte sich im säkularen Frankreich nie durchsetzen, aber das Gefühl war dasselbe. Jedes Jahr konnten sich mehr Menschen mehr leisten. Und alles musste konsumiert werden. „Ich kauf mir was, Kaufen macht so viel Spaß!“, sang Herbert Grönemeyer 1983 und brachte das Selbstbild des Kon- sumbürgers prägnant zum Ausdruck: „Ich hab’ schon alles, ich will noch mehr. Alles hält ewig, jetzt muss was Neues her.“

Dass es eben jene Dauerhaftigkeit der Dinge war, die dem Wesen des Konsums entgegenstand, hatte Baudrillard früh erkannt. Es geht nicht um Kauf und Besitz von Annehmlichkei- ten, sondern um deren „Zerstörung“. Nur, wenn ich das Erstan- dene verzehre, verbrauche, vernutze, bleibt die Maschine der Erneuerung in Gang. Es regiert nicht das Lebensnotwendige, sondern der Überfluss, das kleine bisschen Mehr, das man sich leisten kann: der Restaurantbesuch, der Urlaub am Meer, das neue Auto, obwohl es das alte „noch tut“. Das kleine bisschen Mehr, das man nicht braucht, sondern begehrt.

Die Konsumgesellschaft ist keine Mangelgesellschaft, son- dern eine Überflussgesellschaft. Und ihre Ökonomie kümmert sich weniger um die effiziente Verteilung knapper Güter als um die Stimulierung des Konsums und der Begierde: Marketing und Werbung gewinnen daher eine entscheidende Rolle im Wirtschaftsgeschehen, so entscheidend, dass Google, Tencent und Facebook, drei der wertvollsten Unternehmen der Welt, fast ausschließlich von Werbeeinkünften leben. Der größte Erfolg des Marketings war die radikale Beschleunigung von Moden und Trends in nahezu allen Produktgruppen: Kleidung, Sportausrüstung, Möbel, Autos – alles altert schneller, weil ständig neue Trends ausgerufen werden. Und der technische Fortschritt von den diversen „Smart Devices“ und den zugehörigen Apps ist auch nicht mehr viel mehr als eine Mode. Für den normalen Konsumenten dürfte der Unterschied zwischen zwei Generationen des gleichen Smartphones kaum wahrnehmbar sein, mit den beworbenen Leistungskennzahlen kann er ohnehin wenig anfangen. Er kauft, sofern er kann, weil er kaufen will. Der Protagonist der Konsumgesellschaft ist kein Homo oeconomicus mehr. Sein Verhalten lässt sich besser als Spiel oder als Sucht denn als Nutzenoptimierung beschreiben.

Heute, 50 Jahre nach Baudrillard und 40 Jahre nach Grönemeyer, wird zwar nach wie vor konsumiert, sogar mehr als je zuvor, doch der Fo- kus der Gesellschaft scheint sich zugleich zu verlagern, weil wir die Erfahrung machen, dass die Dinge eben nicht ewig halten. Die Gesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre befand sich ja nicht nur auf einem konstanten Wachstums- und Wohlstandspfad, sie war auch von der Reparatur des Bestehenden weitgehend verschont: Häuser, Straßen, Schienen, Kraftwerke, Telefonleitungen – alles war damals neu. Heute, wo alles „in die Jahre gekommen ist“, verlangen diese Dinge un- sere Aufmerksamkeit, unsere Zeit und unser Geld. Der Konsum vor allem basaler Infrastruktur weicht der Reparatur. Es geht oft nicht mehr um eine erneuernde, alles Alte übertrumpfende Zerstörung des Bestehenden, sondern um den erneuernden Erhalt, man könnte auch sagen: um die Re-Novierung des Alten, das vor unserer Zeit gebaut wurde.

In Deutschland müssen laut der Autobahngesellschaft jedes Jahr 400 Autobahnbrücken erneuert werden. Die Deutsche Bahn hat ein Sanierungsprogramm der wichtigsten Schienenwege und Bahnhöfe angekündigt, das umfangreiche Sperrungen und Reisezeitverlängerungen nach sich ziehen wird. Die Kohlekraftwerke müs- sen durch erneuerbare Energien und Gaskraftwerke mit grü- nem Wasserstoff ersetzt, die Stromnetze für Elektroautos und Wärmepumpen aufgerüstet werden. Und die Sanierungsrate der Gebäude muss sich verdoppeln, jedes Jahr zwei bis zweiein- halb Prozent des Bestands: Dämmung von Dach und Wänden, neue Fenster und neue Heizung. Gleichermaßen muss unsere Infrastruktur auf die mit dem Klimawandel zunehmenden Ex- tremwetterereignisse vorbereitet werden: Höhere Dämme an den Flüssen und mehr Überschwemmungsgebiete, mehr und größere Regenrückhaltebecken in den Gemeinden, ein Rück- bau der Versiegelung und mehr Grünflächen in den Städten, um das Aufheizen im Sommer zu reduzieren.

Entscheidend dabei: All das geschieht, ohne dass wir einen echten Wohlstandsgewinn haben. Wir fahren heute schon Auto und Bahn, haben Licht und Wärme und wohnen komfortabel. Es geht nicht mehr um das bisschen Mehr, das wir uns leisten könnten. Es geht um die (Vorwärts-)Verteidigung des Erreichten.

Da passt es ins Bild, dass wir in dieser Situation auch wieder mehr Geld für die Landes- und Bündnisverteidigung ausgeben. Der Feind des Wohlstands kommt nicht nur aus dem Inneren in Form von Korrosion, Verschleiß und der von uns provozierten Natur, sondern nun wieder auch von außen. Die anstehende bessere Ausrüstung der Bundeswehr ist dabei weit von einer „Aufrüstung“ entfernt. Es geht um den Ersatz von bisheriger Technik, die entweder nicht mehr funktionstüchtig oder veraltet ist, oder einfach um das Auffüllen von Munitionsdepots, damit die Munition uns im Ernstfall nicht nach wenigen Tagen ausgeht – und damit wir das, was wir haben, verteidigen können.

Dem Reparaturbedarf an unserer Infrastruktur entspricht ein Pflegebedarf an uns selbst. Die Zahl der Pflegebedürftigen soll von heute knapp fünf auf über sechs Millionen im Jahr 2040 steigen, wenn man nur die heutigen Bedarfe extrapoliert. Wir werden immer älter, und alte Menschen sind häufiger pflegebedürftig. Hinzu kommt, dass die medizinische Versorgung immer besser wird und immer mehr Menschen immer schwerere Krankheiten überleben und im Anschluss pflegebedürftig sein werden. In fast jeder Familie wird es mindestens einen Pflege- bedürftigen geben. Unser Blick auf den Körper wird sich verändern, weg vom Objekt der Begierde hin zum Objekt der Pflege.

Auch vor 50 Jahren wurde schon repariert, aber es wurde vor allem neu gebaut. Und auch vor 50 Jahren wurden schon Alte gepflegt, aber gleichzeitig gab es viel mehr Kinder. Die Zukunft stand offen. Heute funktioniert die von Baudrillard be- schriebene Gleichung „Wachstum = Überfluss = demokratische Teilhabe aller“ nicht mehr, weil wir zu viel reparieren müssen. Wenn die Demokratie dennoch weiter funktionieren soll, braucht sie eine andere Erzählung als die von Konsum, Wachs- tum und Fortschritt. Die lange gültige Fortschrittserzählung, die die modernen Gesellschaften zusammengehalten hat, wird brüchig. Dabei ist die Diskussion, ob es tatsächlich noch Fortschritt gibt, müßig; er wird schlicht subjektiv immer weniger erlebt: Viele arbeiten nicht mehr. Und die, die arbeiten, arbeiten nicht am Fortschritt, sondern reparieren und pflegen.

Wer die Gesellschaft zusammenhalten und nicht zusehen will, wie dieser Zusammenhalt erneut durch die nationale Erzählung und die Abgrenzung nach außen organisiert wird, braucht eine andere, glaubwürdigere Erzählung, die dieses Mal keine Vision einer besseren Zukunft sein kann. Sie müsste auf der Vergangenheit aufbauen, sich um Elemente der Dankbarkeit und der Verantwortung für das Erreichte konstruieren, was es für unsere (wenigen) Kinder zu bewahren gilt. Wir müssten lernen, zufrieden zu sein. Dazu müssten wir die alte Konsumgesellschaft und ihr Marketing hinter uns lassen, das uns ständig einredet, wir bräuchten mehr. Und dazu müssten wir auch die Verteilungsfrage neu stellen, da der Kuchen vom Reparieren und Pflegen nicht mehr wächst.

Erstveröffentlichung: WirtschaftsWoche 35, 25.8.2023