Vortrag auf dem 16. Sächsischen Rohstofftag, 18. Juli 2024
Das Manuskript zum Download.
„Der erste, der ein Stück Land umzäunte, auf die Idee kam zu sagen: ‚Das gehört mir‘, und Leute fand, einfältig genug, es ihm zu glauben, der war der wahre Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.“[1]
So spottete der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1755. Nun wissen wir heute, 270 Jahre später und hier, auf dem Sächsischen Rohstofftag, dass es mit dem Umzäunen des Landes nicht unbedingt getan ist.
Das Siliziumdioxid, das Sie umzäunt haben, ist zwar anschließend Ihr Eigentum; das Eisenoxid aber nicht. Das ist in Deutschland nach dem Bergrecht herrenlos und damit zunächst einmal niemandes Eigentum. Sie können daran Eigentumsrechte auf Antrag erwerben, aber diese Rechte beziehen sich dann nur auf das Eisenoxid, nicht auf das Land darüber oder darunter. In den USA ist das anders. Da gehört Ihnen als Grundstückseigentümer das Eisenoxid, aber für Sand und Kies müssen Sie beim Innenministerium nachfragen. In Frankreich hingegen gehört Ihnen beides. — Willkommen in der Bürokratie!
Die Polemik von Rousseau erinnert uns daran: Eigentumsfragen sind Abgrenzungsfragen. Eigentum zwingt uns dazu, Dinge zu unterscheiden. Grenzen zu ziehen. Zäune zu bauen. Eigentum zwingt uns dazu, Regeln aufzustellen und uns auf diese Regeln zu einigen. Und je komplizierter die Eigentumsverhältnisse einer Gesellschaft werden, umso komplizierter werden die Regeln, mit denen man sie zu ordnen versucht. Doch der Reihe nach.
Eigentum ist die Grundlage der freien Gesellschaft
Was ist eigentlich Eigentum? – Der sächsische Philosoph, Johann Gottlieb Fichte, 1762 in Rammenau, also knapp 50 km von hier, geboren, definierte den Eigentumsbegriff als ein Handlungsrecht: Das Recht auf Eigentum an einem Ding ist das Recht „der Unterwerfung desselben unter unsere Zwecke“ (GNR, SW III, 117).
Dieses Recht ist für Fichte ein Ur-Recht, weil es für ihn die Voraussetzung für die Freiheit des Menschen war. Nur wenn ich meinen Körper besitzen kann (und niemand anders) und nur wenn ich die Welt um mich herum (zumindest kurzzeitig) in Besitz nehmen kann, kann ich handeln. Und nur wenn ich handeln kann, verwirkliche ich meine Freiheit.
Freilich ist dieses Ur-Recht schon bei Fichte dadurch praktisch eingeschränkt, dass es neben mir noch andere Menschen gibt, denen dieselben Urrechte zukommen und die mit ihren Urrechten potenziell und tatsächlich in Konflikt mit mir stehen. Denn immer wenn ich etwas meinen Zwecken unterwerfe, enthalte ich es ja anderen vor, die es für ihre Zwecke gebrauchen wollen.
Das bringt philosophisch gesehen die Frage auf: Wie begründe ich konkretes Eigentum? Warum gehört etwas Ihnen? Oder Ihnen? Oder mir? –
Und hier gibt es im Wesentlichen zwei philosophische Perspektiven, die ich der Einfachheit halber einmal als die katholische und protestantische Form der Eigentumsbegründung bezeichnen will.
Die „katholische“ Perspektive
Es sind die Werke, die gerecht machen. Man kann und man muss für seine Erlösung arbeiten. – Eigentum ist also das Ergebnis meiner Arbeit und meiner Anstrengung. Dieser Gedanke hat eine lange Tradition: Platon, Aristoteles, die mittelalterliche Theologie.
Selbst noch John Stuart Mill, auf den die moderne Volkswirtschaftslehre zurückgeht, begründete das Eigentum an den Früchten mit der Arbeit des Bauern. Das Aufheben von auf dem Boden liegenden Früchten reicht für Mill, um einen Eigentumsanspruch zu begründen.
Nur so lässt sich auch Marx‘ These der Enteignung des Arbeiters verstehen.
Dieser Eigentumsbegriff prägt den Gedanken der Meritokratie bei den französischen Revolutionären und findet Eingang in die Sozialenzyklika der katholischen Kirche Rerum novarum im Jahr 1891.
Und auch in den jüngsten Diskussionen um das Bürgergeld finden wir eben jenen Gedanken wieder: „Leistung muss sich lohnen“; „Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet.“ – Oder nochmal im Original beim Apostel Paulus, der freilich im politischen Diskurs nicht wörtlich zitiert wird: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ (2 Thess 3,10). Kurz: Eigentum entsteht durch Arbeit.
Die „protestantische“ Perspektive
Sola gratia: Die Erlösung ist reine Gnade, man kann sie sich nicht erarbeiten. Eigentum ist in dieser Lesart Gnade, Geschenk oder Zufall; und es wird vertraglich geregelt. Sola scriptura.
Religiös gesprochen stammt es ursprünglich aus einem Bund / einem Vertrag mit Gott, in dem Eigentumsrechte festgelegt waren. Philosophisch gesprochen wird es durch die Fiktion eines Gesellschaftsvertrags begründet.
Wem dieser Vertrag nicht passe, der könne – so John Locke – ja nach Amerika in den Naturzustand auswandern. Eigentum entsteht nicht durch Arbeit, sondern schlicht durch Inbesitznahme und anschließende Verteidigung gegen den anderen „soweit die Kanonen reichen“[2], wie Immanuel Kant sagt.
Eigentum ist in dieser Perspektive ein schlichter Vertrag, der Zugriffsverhältnisse und damit Machtverhältnisse regelt. Eigentum ist das, was wir als solches definieren. Kein moralischer Anspruch.
Eigentum als Garant von Liberalität und Pluralität
Diese Tradition und Fichtes Freiheitslehre wirken fort in der liberalen Ökonomie. Hayek und Friedman begreifen Privateigentum als Voraussetzung von Freiheit. Es brauche keiner anderen Begründung. Das müsse ausreichen, um jeden Eingriff abzuwehren. Hayek wandte sich explizit gegen die Idee, Eigentum müsse man sich verdienen und auch gegen die Idee, das demjenigen mehr zustehe, der härter arbeite. Er war der Meinung, es sei ökonomisch doch besser, mit wenig Einsatz viel Ergebnis zu erzielen.
Hinter der Verteidigung des Privateigentums steht der Wunsch nach einer freien, aber auch einer pluralen Gesellschaft, in der Minderheitenrechte weder durch Staatsentscheidungen noch durch Mehrheitsentscheidungen beschnitten werden können. — Da sind Liberale und Linke übrigens überraschend einig. Lassen Sie mich zwei prominente Vertreter kurz zitieren.
Hayek:
„Allein aus dem Grunde, weil die Herrschaft über die Produktionsmittel sich auf viele Menschen verteilt, die unabhängig voneinander handeln, sind wir niemandem ausgeliefert, so dass wir als Individuen entscheiden können, was wir tun und lassen wollen.“[3]
Karl Marx scheint das genaue Gegenteil zu Hayeks These zu sagen:
„Die Bourgeoisie „hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation.“[4]
Marx beklagt die Konzentration des Eigentums in den Händen einiger weniger. Er sah darin eine „monopolisierbare gesellschaftliche Macht“[5]. Er teilt nicht Hayeks Diagnose, dass die Produktionsmittel auf viele Personen verteilt sind und diese unabhängig voneinander handeln.
Doch Marx‘ Motiv ist nicht primär die Abschaffung des Privateigentums, ihm geht es um eine Begrenzung der Machtkonzentration. Also genau um dasselbe, das Hayek auch im Kopf hat.
Wir könnten also drei konsensfähige Kriterien zwischen Linken und Liberalen ableiten, die Eigentum als Instrument für eine freie Gesellschaft erfüllen muss:
- Es erlaubt mir, frei ohne Zwang in der Gesellschaft zu handeln.
- Es ist auf viele Einzelne verteilt.
- Und deshalb gewährleistet es eine Pluralität der Zielfunktionen und eine plurale Gesellschaft.
Die Weiterentwicklung des Eigentumsbegriffs
Bislang haben wir so getan, als wüssten wir, wovon wir sprechen, wenn wir von Eigentum sprechen. Was mir gehört, damit darf ich im Rahmen der Gesetze machen, was ich will; und niemand anders darf damit etwas anstellen, was ich nicht will. Ich bin für mein Eigentum verantwortlich. Wenn ich es schlecht behandle, verliert es an Wert. Wenn es anderen Schaden zufügt, muss ich ihn beheben.
Doch Eigentum ist vielfältig, und große Teile unseres heutigen Eigentums funktionieren nicht mehr so, wie wir Eigentum immer noch verstehen. Denn zur gleichen Zeit, als die Philosophie diskutierte, was Eigentum sei und was Eigentum begründen könne, schuf die Wirtschaft eine neue Art von Eigentum.
Im 17. Jahrhundert begann der Ostindienhandel im großen Stil. Die niederländischen Kaufleute sahen sich vor einem gewaltigen Investitionsbedarf für die Schiffe bei einem gleichzeitig sehr hohen Risiko. Denn nicht wenige Schiffe kamen nicht zurück. Ähnliches galt ein wenig zeitversetzt für den Bergbau. Die beginnende Industrialisierung brauchte große Mengen an Kohle und Erzen. Das war mit dem Einzelunternehmer nicht mehr zu machen.
Daher entwickelt sich in dieser Zeit der Eigentumsbegriff weiter: Mit drei Besonderheiten, die ihn vom Eigentumsbegriff der Philosophen, der unser Denken bis heute prägt, unterscheidet.
- Die Eigentümer teilten (und diversifizierten) ihr Risiko in großem Stil: Das einzelne Schiff war nicht mehr einzelnen Kaufleuten zuzuordnen, sondern nur noch der Ostindien-Gesellschaft als Ganzer. Die individuelle Verantwortung war verschwunden.
- Die Verantwortung wurde nicht nur geteilt, sondern auch reduziert: Die Eigentümer hafteten nur noch mit ihrer Einlage. Schon ab 1553 war in England die Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung möglich, die Kosten waren jedoch zunächst so prohibitiv hoch, dass tatsächlich nur hochriskante Unternehmungen wie der Ostindienhandel oder solche mit hohem Kapitalbedarf wie der Ausbau der Eisenbahnen und auch der Bergbau diese Rechtsform wählten. Im Standortwettbewerb um Investitionen brachen aber Mitte des 19. Jahrhunderts die Dämme, und die Rechtsform der Limited Company wurde zunächst in England 1855, dann in Frankreich 1863 mit der Société à responsabilité limitée und schließlich im Deutschen Reich 1892 mit der GmbH, der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, eingeführt. Und heute ist der Kaufmann, der mit seinem privaten Vermögen haftet, die anekdotische Ausnahme.
- Eigentum wurde liquide und handelbar: Die Dutch East India Company gilt als das erste börsengehandelte Unternehmen der Welt. Das unternehmerische Risiko aus Produktion und Absatz wurde in einen Vertrag gegossen, in das Finanzsystem überführt und dort bewirtschaftbar gemacht. Man musste nicht mehr abwarten, ob die Geschäftsidee wirklich Früchte trägt; es reichte aus, jemand anderen zu finden, der das glaubte, um seine Idee zu Geld zu machen.
Aus dem Eigentümer und Unternehmer war ein Investor geworden.
Bürokratie als Konsequenz
Aber als Investor wollen Sie wissen, was mit Ihrem Geld geschieht. Sie fordern also ein Reporting ein. Die ersten Kennzahlensysteme gehen zurück auf den Bau der Eisenbahnen in den Vereinigten Staaten. Die Investoren an der Ostküste verlangten regelmäßige Berichte über den Baufortschritt im Mittleren Westen und später über die Transportleistung der Eisenbahnen.
Das komplexe Verhältnis von Management und Investoren führt Anfang des 20. Jahrhunderts zu großen Debatten, wem das Management gegenüber verantwortlich sein sollte und nach welchen Größen es zu steuern sei. Die Investoren hatten Sorge um ihr Geld und drangen auf gesetzliche Regelungen.
Und auch die seit einigen Wochen in der Kritik stehende Richtlinie der EU zum Sustainability-Reporting kam auf den Druck der Finanzindustrie und der Investoren zustande. Sie wollten für ihre Investitionsentscheidung wissen, wie einzelne Unternehmen im ökologischen und sozialen Bereich aufgestellt sind.
Denn auch das Investieren macht ja kaum einer noch selbst. Wir haben es an Unternehmen und deren Manager abgegeben. Da diese mit fremdem Geld handeln, brauchen sie Vorgaben. Denn der Manager muss wissen, was er tun soll. Und es gibt viele Interessen zu berücksichtigen: diejenigen der Investoren der Fondsanteile, diejenigen der Investoren der Fondsgesellschaft, diejenigen der Kreditgeber des Fonds und der Fondsgesellschaft. Etc. – Und für alles gibt es Ausschüsse, Gremien, Delegationsvereinbarungen, Berater. – Es geht dort nicht viel anders zu als in der öffentlichen Verwaltung.
Und hier wie da schauen die Beteiligten zur Absicherung gerne auf geschriebene Regeln. Das sind unsere Zäune. Und wo es diese nicht gibt, da spricht man dann von einer Regelungslücke. Aber nicht nur die Politik. So hat die DIHK in ihrer Stellungnahme zum Critical Raw Materials Act eingeworfen, „dass es wichtig sei, nicht nur die für Zukunftstechnologien notwendigen Rohstoffe zu beachten, sondern auch ‚Standardrohstoffe‘ mit einer breiten wirtschaftlichen Bedeutung“.
Für den deutschen Soziologen Max Weber sicherte die Bürokratie schon vor 100 Jahren die „Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herren wie für die Interessenten“. – Sie war ihm die „formal rationalste Form der Herrschaftsausübung.“[6] Die Alternative dazu sei nur das Dilettantentum.
Wir alle profitieren von Bürokratie. Auch (und gerade) die Wirtschaft. Dass wir in Europa einheitliche Messgrößen, eine gemeinsame Spurbreite für die Eisenbahn und dieselbe Netzfrequenz für Strom haben, verdanken wir bürokratischen Vorschriften und Verfahren. Dass wir in einer ausdifferenzierten, freien und pluralen Gesellschaft leben, verdanken wir nicht zuletzt der Bürokratie.
Denn zu Beginn unserer Rechtstradition waren die Regeln noch unbürokratisch. Es waren vielfach einfach strukturierte Verbotstafeln: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht ehebrechen. – Sie fordern einen absoluten Schutz. Sobald der moderne liberale Staat um der Freiheit und der Pluralität willen differenziert, schafft er das, was wir Bürokratie nennen. Töten darf man nicht, aber im Fall der Notwehr und der Nothilfe gibt es Ausnahmen – bei der Tötung auf Verlangen diskutieren wir noch. Stehlen darf man nicht, aber was Eigentum ist und wie man es erwirbt, füllt Gesetzesbücher. Beim Ehebrechen mischt sich der Staat nicht mehr ein, doch was eine Ehe ist und wie sie zu schließen und zu scheiden wäre, folgt klaren Regeln. Die Regeln wägen die Freiheitsrechte des Einen gegen die Schutzbedürfnisse des anderen ab. Wer nicht der Willkür des Einzelnen – im Positiven wie im Negativen – ausgeliefert sein will, der setzt auf feste Regeln.
Die merkwürdige Dialektik des Eigentums
Bürokratie als Konsequenz von Eigentum ohne Risiko
Die Bürokratie, die wir alle gerne beklagen, ist nur ein Symptom. Sie ist eine Konsequenz aus der Art und Weise, wie wir heute unser Miteinander organisieren, nämlich als große GmbH; als Société anonyme à responsabilité limitée wie diese Rechtsform im Französischen noch treffender heißt: als anonyme Gesellschaft mit beschränkter Haftung.
Ein großer Teil des Eigentums ist in Lebensversicherungen oder Aktienfonds angelegt. Doch wenn Sie einen synthetischen DAX-ETF besitzen, dann hat man Ihnen zwar die Rendite des deutschen Aktienindex versprochen und diese auch abgesichert, doch das Sicherungsvermögen des Fonds kann aus Wertpapieren aus aller Herren Länder bestehen.
Regeln und Bürokratie werden nötig, weil die Einzelnen nicht mehr ihre Interessen im direkten Austausch miteinander aushandeln können, sondern weil unsere Gesellschaft inzwischen durch miteinander verflochtene Kapitalgesellschaften, Körperschaften, Organisationen, Verbände, Vereine und staatliche Institutionen geprägt ist, in denen der Einzelne nicht allein über die Interessen der Gemeinschaft, die er vertritt, entscheiden kann.
Was also die Grundlage unserer Freiheit ist, das Eigentum, ist auch die Grundlage dessen, was wir tagtäglich als Einschränkung dieser Freiheit wahrnehmen: Komplizierte Vertragsbeziehungen und Regelung von Ansprüchen.
Eigentum ohne Pluralität
Doch die neue Art von Eigentum, übt neben den bürokratischen Regeln noch eine andere Art von Zwang aus. Aus dem Abwehrrecht, wie wir Eigentum bislang verstanden hatten, ist nämlich ein Anspruchsrecht geworden:
Wenn Ihnen ein Keller voll Vorräten oder ein Maschinenpark gehören, dann haben Sie ein Recht darauf, dass Ihnen niemand etwas davon wegnimmt. Das ist der klassische Eigentumsbegriff. Sie verfügen über einen Gegenstand. Wenn Ihnen aber eine Aktie gehört, dann haben Sie ein Recht darauf, dass Ihnen jemand eine Rendite zahlt.
Es geht nicht um das Eigentum an den Produktionsmitteln (wie noch bei Marx oder auch bei Hayek), als Aktionär gehören Ihnen nicht die Produktionsmittel. Die gehören dem Unternehmen. Als Aktionär gehören Ihnen die zukünftigen Gewinne. Oder um es noch mehr zuzuspitzen: Ihr Eigentum ist die auf die Gegenwart abdiskontierte Arbeit anderer.
Lange Zeit stand das sogenannte Finanzeigentum, wenn nicht im Dienst, so zumindest im Schatten des Realeigentums. Doch das hat sich in den vergangenen 20 Jahren geändert. Das McKinsey Global Institute (MGI) berechnet regelmäßig eine Bilanz der Weltwirtschaft. [7] Darin wird das Verhältnis von physischen Anlagen und realer Wirtschaftstätigkeit ins Verhältnis zu Aktien und anderen Wertpapieren gesetzt:
Für die USA als größte Volkswirtschaft lässt sich zeigen, dass der Wert von Aktien seit 1995 dreimal so schnell gewachsen ist wie die Gesamtwirtschaft. Der Wert von Geld- und Sparguthaben doppelt so schnell, und der Wert von Krediten und Immobilien immerhin noch um das 1,5-fache. – Wir haben die Bilanz aufgebläht.
Der Zwangscharakter von Eigentum
Und hier beginnt das Problem: Die Kredite der Unternehmen und Privathaushalte müssen in der Zukunft zurückgezahlt oder umgeschuldet werden. Dafür müssen die Unternehmen Gewinne machen und die Menschen ordentlich bezahlen. Auch damit Ihre Aktien weiterhin so viel wert sind, wie sie wert sind, damit die Rente, die Sie aus ihrem Versorgungswerk beziehen wollen, die Renditeerwartung erfüllt, damit Ihre Lebensversicherung und Ihr Riesterfonds eine entsprechende Performance aufweisen – für all das muss die Volkswirtschaft mehr Wert schaffen. Und zwar auf katholische Art: arbeiten.
Um die Vermögenswerte annähernd zu erhalten, bräuchten wir in den kommenden 10 Jahren doppelt so viel Wirtschaftswachstum wie in den vergangenen 10. Also 4% statt 2%. Da das offenbar selbst McKinsey unrealistisch erscheint, weist das MGI einen Kompromiss als präferiertes Szenario aus: 3% Wachstum und eine Inflation, die 1% höher ist als das Zentralbankziel. Die Arbeitenden müssen es also richten, damit die Vermögenswerte der Nicht-Arbeitenden annähernd erhalten bleiben.
Was wir Finanzeigentum nennen, produziert gesamtgesellschaftlich und individuell eben einen solchen Zwang. Es schafft Freiheit (wenn überhaupt) nur auf Kosten des anderen. Und falls Sie sich diesem Zwang nicht ausgesetzt fühlen, sind Sie entweder Rentier oder Sie schauen Sie morgen mal auf ihr Kennzahlen-Tableau oder in Ihre Zielvereinbarung.
Das neue Eigentum folgt nicht mehr pluralen Interessen, wie die liberalen Vordenker Hayek und Friedman noch unterstellten. Diese Art von Eigentum hat nur eine einzige Zielfunktion: Rendite. Je nach Risiko und Finanzierungsform eine unterschiedlich hohe, aber das einzige, worauf sich alle Investoren einigen können: Es soll mehr werden.
Wir folgen alle derselben Logik, die Alfred Rappaport in den 1980er Jahren als maßgebliche Logik für die Privatwirtschaft definiert hatte: die Erhöhung der Rendite des Eigenkapitals oder die Mehrung des Shareholder Value. Wir reden uns dabei ein, es sei Eigentum, und begründen seinen besonderen Schutz darüber, aber letztlich ist es nur eine Finanzierungsform neben vielen anderen, die sich von diesen graduell unterscheidet.
Als solche Finanzierungsform wird es aber den drei Kriterien, die wir vorhin für die Rolle des Eigentums in einer liberalen Gesellschaft benannt haben, nicht mehr gerecht. Rufen wir sie uns kurz in Erinnerung:
- Eigentum erlaubt mir, frei ohne Zwang in der Gesellschaft zu handeln.
- Es ist auf viele Einzelne verteilt. Und deshalb gewährleistet es
- eine Pluralität der Zielfunktionen.
Heute handelt (1) jemand anders an meiner statt: Institutionelle Investoren, Rating-Agenturen, Manager, Computer. (2) Das Eigentum ist konzentriert auf wenige Akteure. Die Aktien der DAX-Unternehmen gehören nur zu 15 Prozent Einzelaktionären; mehr als 60 Prozent werden von institutionellen Investoren gehalten. Und (3) es folgt der einheitlichen Logik der ständigen Selbstvermehrung. Es gibt keine Pluralität der Ziele.
Die großen Vermögensunterschiede – über die ich auch noch hätte sprechen können – sind ein soziales Problem, aber nicht per se das Problem der freien Gesellschaft. Das Problem der liberalen Gesellschaft ist die Konzentration des Eigentums und die Tatsache, dass das Eigentum zu großen Teilen – wenn man das so sagen darf – gleichgeschaltet ist. Es ermöglicht keine Pluralität, sondern verhindert sie.
Ein persönlicher Gedanke zum Schluss
Ich kann das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht mehr herleiten wie die anderen Gedanken. Es scheint mir aber wichtig zu sein, um die ganze Diskussion rund um Eigentum und Bürokratie nochmals besser einordnen zu können: Wir hatten gesagt, dass es in der Gesellschaft darum geht, die Freiheitsinteressen der einen gegen die Schutzinteressen der anderen abzuwägen. Und dass daraus Regeln und Bürokratie entstehen.
Dass wir so viel davon haben, könnte auch etwas damit zu tun haben, dass wir heute ein Freiheitsverständnis haben, das sich von der Verantwortung für den anderen entkoppelt hat. Wir haben Adam Smiths Warnung, man solle sich nicht auf das Wohlwollen der anderen verlassen, zur Maxime unseres Handelns gemacht, anderen kein Wohlwollen zu zeigen, sondern immer und überall nur unseren eigenen Nutzen zu optimieren. Wir leben in einer ökonomischen Gesellschaft.
Dabei sind wir eigentlich gar nicht so. Der Mensch ist wohlwollend und großzügig. Er hat die Gabe, sich für seinen Mitmenschen zu opfern. Auch wenn manche Ökonomen uns das einreden wollen: Nächstenliebe ist keine Form von Egoismus, sondern das Gegenteil davon. Der Satz „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben“ ist kein ökonomischer Satz.
Aus der Zeit der französischen Revolution gibt es ein Siegel, das die Losung Liberté – Égalité – Sûreté – Propriété trägt. Freiheit, Gleichheit, Eigentum. Sie konnte sich nicht durchsetzen. Die Revolutionäre hatten verstanden, dass die Gesellschaft nicht durch Eigentum zusammengehalten wird. Eigentum baut Zäune.
„Liberté, Egalité, Fraternité.“ Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. – Das steht heute in Frankreich auf fast jedem Rathaus und auf fast jeder Schule.
Denn unter Geschwistern baut man keine Zäune.
[1] Jean-Jaques Rousseau. Diskurs über die Ungleichheit. UTB 2008, 173. / Le premier qui, ayant enclos un terrain, s’avisa de dire : Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.
[2] Kant, Immanuel. Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Berlin: Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“, I §15.
[3] Hayek, Friedrich A. von. The Road to Serfdom: With the Intellectuals and Socialism. Combined edition, First published. Occasional Paper 136. London: iea, The Institute of Economic Affairs, 2005, Kapitel 8.
[4] Marx. Manifest der Kommunistischen Partei, Teil I.
[5] Marx. Manifest der Kommunistischen Partei, Teil II.
[6] Weber, Max. Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr Siebeck, 1922, Erster Teil, Kapitel III, §5.
[7] Vgl.: McKinsey Global Institute. „Global Balance Sheet: The future of wealth and growth hangs in the balance“, Mai 2023. https://www.mckinsey.com/mgi/overview/the-future-of-wealth-and-growth-hangs-in-the-balance#at-a-glance.