Die Gefährdung des Menschen im Zeitalter der künstlichen Intelligenz

Seit die Maschine mit uns spricht, ist das Thema der künstlichen Intelligenz wieder groß in Mode. Manche erwarten gar die Ablösung des Menschen durch eine Super-Intelligenz. Die Ideen sind alles andere als neu. Sie setzen darauf, dass wir vergessen, dass sich menschliches Leben und Zusammenleben nicht in Denken und Reden erschöpft.

Seit langem rechnen Computer schneller (und zuverlässiger) als der Mensch; genau dafür wurden sie erfunden. Das hat niemanden weiter beschäftigt: Zu kompliziert war die Bedienung mit Lochkarten und Magnetbändern, zu unhandlich waren die Großgeräte. Doch selbst als der IBM-Computer Deep Blue den damaligen Weltmeister Gary Kasparow 1996 im Schach besiegte, blieb die große Aufregung aus. Man hatte schnell verstanden, dass auch Schach nichts anderes ist als ein Optimierungsproblem in einem regelbasierten Umfeld. Deep Blue konnte in der Sekunde über 100 Millionen Stellungen analysieren und bewerten. Da kam der Weltmeister nicht mehr mit. Dass Deep Blues Nachfolger Watson 2011 sich im Spiel Jeopardy im amerikanischen Fernsehen gegen die Titelverteidiger durchsetzte, schaffte es nicht mehr auf die deutschen Titelseiten.

Doch jetzt, wo die Maschine Geschichten erzählt und Bilder malt, für Zeitungsartikel recherchiert und diese schreibt, Unternehmensdaten analysiert und die Unternehmensplanung erledigt, ist die Aufregung groß. Zeitungen geben wöchentliche Newsletter heraus, Unternehmen entwickeln KI-Strategien, und die Bewertung der Digitalunternehmen erfährt neue Höchststände. Es herrscht Goldgräberstimmung. Doch gleichzeitig verändert sich die Arbeitswelt der kulturellen und wirtschaftlichen Elite: Plötzlich ist man selbst Gegenstand des technologischen Fortschritts, den man bislang nur beschrieben oder gemanagt hat. Die Sorge vor dieser Hochrisikotechnologie ergreift auch die intellektuelle Elite, weil sie selbst nicht mehr versteht, was geschieht. Ein Großteil der Unruhe könnte damit zu tun haben.

Aber nicht nur. Wissen, Vernunft und Sprache sind geradezu die Definition des Menschseins. Wir sind der homo sapiens, der wissende Mensch. Wir sind das animal rationale, das vernünftige Lebewesen. Und wir sind nach einer Bestimmung, die schon älter ist als Aristoteles, das zoon logon echon, das Lebewesen, das Sprache hat. Sprache scheint der Kern dessen zu sein, was wir sind. Ohne Sprache bleiben unser Wissen und unsere Vernunft stumm. Mit der Sprache treten wir in Kontakt zur Welt und zum anderen Menschen.

Nun hat die Maschine es dank eines unglaublich großen Datensatzes und einer noch größeren Rechenleistung geschafft, Sprache als mathematisch-statistisches Phänomen zu reformulieren und uns mit seiner Auswertung zu beeindrucken. Wir hören sie sprechen. Und uns gefällt, was wir hören, reflektiert es doch alle digitalisierten Werken der Weltliteratur und die Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen einer ganzen Generation: „Der Weltgeist aus der Maschine“, bemühte der Spiegel den Philosophen Hegel für das Titelthema im März 2023.

Wird die Maschine nun menschlich? Stehen wir kurz vor einer Intelligenz-Explosion? – Auch diese Frage ist alt. Schon 1965 erwartete der britische Mathematiker Irving John Good die Erfindung einer „ultra-intelligenten Maschine“, die dem Menschen in allen intellektuellen Fähigkeiten weit überlegen sei. Diese Maschine sei die letzte Erfindung, die der Mensch noch machen müsse, danach werde er nicht mehr gebraucht.

Vor zehn Jahren beschrieb der in London lehrende schwedische Philosoph Nick Bostrom die künstliche Intelligenz als den vielversprechendsten Weg zur Entwicklung einer solchen „Superintelligenz“. Als Transhumanist, der die Verbesserung oder Ablösung des Menschen durch eine technologisch optimierte Lebensform erwartet und begrüßt, begann Bostrom gar, darüber nachzudenken, ob und inwieweit Menschen verpflichtet wären, denkende Maschinen nach menschlich-moralischen Maßstäben zu behandeln und ihnen gegebenfalls zu Diensten zu sein.

Allein, die Debatte kommt einem manchmal so vor, als hätten die letzten einhundert Jahre philosophischer Reflexion nicht stattgefunden. Man startet beim mittlerweile über 200 Jahre alten Hegel’schen „Weltgeist“, der die Verwirklichung der Vernunft in der Weltgeschichte sein sollte, übersetzt ihn in ein logisch-mathematisches Problem und erwartet, dass die Algorithmen der Superintelligenz dasselbe eines Tages lösen werden.

Dabei wusste schon Ludwig Wittgenstein vor über 100 Jahren, dass die menschlichen Probleme nicht annähernd gelöst sind, wenn alle wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind. Und wer den Philosophen des Existenzialismus, der kritischen Theorie, der Phänomenologie oder des Post-Strukturalismus in den vergangenen 50 Jahren nur ein bisschen zugehört hat, weiß, dass die Fragen nach der Vernunft, der Sprache und dem Menschen allesamt nicht einfach zu beantworten sind: Die menschliche Existenz erschöpft sich nicht in Intelligenz, und unser Zugang zur Welt ist mehr als Datenanalyse und -aufbereitung.

„Leiblichkeit“ nennt die Philosophie das Phänomen, dass der Mensch nicht nur zufällig einen Körper hat, sondern dass er dieser Körper ist. Die Existenz des Menschen ergibt sich nicht aus einer Kombination von Hard- und Software, sondern drückt sich aus in einem Leib, der empfindsam ist sowie räumlich und zeitlich begrenzt.

In unserer Empfindsamkeit begegnen uns die Welt und der andere, ohne dass wir uns ihrer erwehren könnten. „Der Mensch badet in den Elementen“, schrieb der französische Philosoph Emmanuel Levinas. Wir verstoffwechseln unsere Welt, lange bevor wir sie analysieren oder über sie sprechen. Wir haben keine Kontrolle über unser Genießen, noch weniger aber über unseren Schmerz. Im physischen Schmerz sind wir der Welt ausgesetzt und können uns von ihr nicht freimachen. Die Maschine würde einen nicht funktionierenden Sensor abschalten. Wir können das nicht. Wir altern. Kein Upgrade und kein Update möglich. Schon der simple Organersatz ist lebensgefährlich.

Die räumliche und zeitliche Begrenztheit unserer Existenz macht sie einzig. Niemand kann mich in meinem Leib ersetzen. Und ich kann niemanden in seinem Leib ersetzen. Jeder muss für sich sterben, jeder muss die Zerbrechlichkeit seiner eigenen Existenz aushalten, bis sie nicht mehr auszuhalten ist. Die Kopie der Software auf eine andere (identische) Hardware ist nicht möglich. Unser Leib trägt die Spuren unserer Existenz.

Dadurch erlangt die menschliche Existenz Bedeutsamkeit. In der Sorge um das Leben des anderen und im Einsatz des eigenen Lebens für ihn entsteht menschliche Gemeinschaft. Unser Leben nur einigen wenigen widmen zu können, ist kein Problem unserer begrenzten Rechenleistung, es ist die Schönheit und Tragik der menschlichen Existenz, die wir Liebe nennen. Die Maschine kann nicht lieben, weil sie nicht endlich ist, sie kann nicht leiden, weil sie keinen Leib hat, und sie kann nicht für den anderen sterben, weil sie nicht lebt. Sie mag denken und reden können; aber ob sie je verstehen wird, was lieben, leiden und sterben bedeutet? Wir verstehen es ja selbst kaum.

Die Gefahr der künstlichen Intelligenz besteht darin, dass wir auf die Maschine in all ihrer Eloquenz und Beredsamkeit hereinfallen, dass wir uns vorgaukeln lassen, alle Fragen seien lösbar und der Mensch sei ersetzbar, nur weil die Maschine manche Funktionalitäten unseres (beruflichen) Alltags schneller und genauer erfüllt, als wir es könnten. Wo wir den Menschen in unserer alltäglichen Interaktion durch die Maschine ersetzen, berauben wir uns jenes Überschusses an Menschlichkeit, der nicht für die ökonomische Transaktion gebraucht wird und nicht in Intelligenz oder Sprache aufgeht.

Das Büro ist nicht nur ein Ort, wo Quartalsabschlüsse, Konstruktionszeichnungen, Verträge oder Zeitungsartikel produziert werden. An den Schulen und Universitäten wird nicht nur Wissen vermittelt. Und in den Arztpraxen und Kliniken werden nicht nur Krankheiten behandelt. Überall begegnen wir Menschen in ihrer Individualität, mit all ihren Eigenheiten, ihren Stärken und Schwächen. Auch wenn Maschinen eines Tages die besseren Manager, Ingenieure, Anwälte, Journalisten, Lehrer oder Ärzte werden sollten, sie werden nicht die besseren Menschen. Sie könnten aber uns davon abhalten, es zu werden, weil die maschinelle Illusion von Perfektion uns Demut und Großzügigkeit im Umgang mit den Schwächen des anderen vergessen und verlernen lässt.

Der Beitrag erschien unter dem Titel »Schwächeln ist menschlich« in der WirtschaftsWoche N° 34 vom 16.08.2024