Vortrag auf dem BRL Forum 2024
Hamburg, 26. September 2024
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Einführung
Gestatten Sie mir bitte, bevor ich zu dem von mir als „schwierig“ bezeichneten Verhältnis von Ökonomie und Demokratie komme, einige kurze Bemerkungen zum Titel dieser Veranstaltung und zur Problemlage, die er mir zu beschreiben scheint.
„Zurück zur streitbaren Demokratie. Fundament einer resilienten Gesellschaft und Wirtschaft” – So lautet er. Darin steckt eine merkwürdige Dialektik, die uns einiges über uns und über unsere heutige Situation als Gesellschaft verrät.
Demokratie, Wirtschaft und Gesellschaft – darüber sprechen wir gleich, daher möchte ich den Akzent gerne zunächst auf die vier anderen bedeutungstragenden Wörter legen: Zurück, streitbar, Fundament und Resilienz.
Zurück
Der Titel beginnt mit dem kleinen Wort „Zurück“, das andeutet, es habe so etwas wie eine „streitbare Demokratie“ schon einmal gegeben. Und nun hat man sie verloren. Quasi auf dem Weg in unsere Zeit. Oder aber man hat sie uns entwendet. Oder haben wir sie gar selbst abgeschafft, ohne es zu merken?
In jedem Fall wollen wir ZURÜCK! – Zurück in eine Zeit, in der es ein Fundament gab und in der die Gesellschaft Resilienz versprach. Eine Zeit mit einem Fundament ist eine Zeit der Stabilität und der Ordnung. Und Resilienz ist eine Eigenschaft oder Fähigkeit, dass die Dinge (und die Menschen) quasi automatisch in ihren ursprünglichen Zustand, in einen geordneten Zustand zurück-springen. So die wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen. Re-siliare. Ein Salto rückwärts sozusagen.
„Zurück“ – eigentlich war das nie der Ruf der Demokratie gewesen. „Zurück“, das war der Ruf der Restauration nach dem Wiener Kongress unter Metternich. Und „Zurück“, das war die Nostalgie nach dem „guten alten Kaiser Wilhelm“, den man wiederhaben wollte. Nach der „guten alten Zeit“.
Demokratie hingegen war ein Zukunftsversprechen, ein Versprechen, dass wir die Gesellschaft verbessern können. Dass wir die Gesellschaft für jede Einzelne und jeden Einzelnen besser machen können. Demokratie fand sich noch nie in der Vergangenheit oder Gegenwart. Sie war noch nie selbstverständlich, noch nie gegeben – schon gar nicht von Gott. Demokratie musste und konnte gewagt werden. Sie musste erstritten und den Mächtigen abgetrotzt werden. Demokratie war die Zukunft. Und die Zukunft war demokratisch.
Wenn wir also heute rufen „Zurück!“ – Ist das dann ein Zeichen dafür, dass wir keine Demokraten sind? Oder ist es ein Zeichen dafür, dass wir Demokraten an den Kern der Demokratie, nämlich die bessere Zukunft, nicht mehr glauben und daher Zuflucht in einer Vergangenheit suchen, in der es besser gewesen sein soll? Beides wären eher unangenehme Wahrheiten.
Streitbar
Ich sagte eben, dass Demokratie erstritten werden muss. Sie muss erstritten werden, weil Gesellschaften immer geordnet sind und weil diese Ordnung zu einer Hierarchie und zu Machtunterschieden führt. Die Demokratie aber hat als Demokratie (und wir kommen darauf zurück) eine Allergie gegen Machtunterschiede. In der Art einer Auto-Immunkrankheit wendet sie sich gegen ihre eigene Ordnung, weil sie Machtunterschiede nicht akzeptieren will.
Daher besteht Demokratie aus Streit und Auseinandersetzung. Die fehlende Einheit, die fehlende Harmonie, die Dissonanz oder auch die fehlende Ordnung sind die prägenden Merkmale einer Demokratie. Das Undemokratische an den extremen Rechten in Europa ist nicht, dass sie die gegenwärtige Ordnung kritisieren. Das Undemokratische ist, dass sie sie durch eine Ordnung ersetzen wollen, die weniger Streit zuließe, die weniger Andersheit tolerierte. Das ist wichtig für die Debatte. Natürlich darf man die Ordnung in Frage stellen. Frankreich lebt heute in der 5. Republik.
Demokratie ist diese Infragestellung, ist der fortgesetzte Streit und damit auch die Ungewissheit der Zukunft. – Ist es diese Ungewissheit und diese Sorge, die uns rufen lässt: „Zurück!“? Rufen wir „Zurück!“, weil wir nicht nur eine Ungewissheit in der Demokratie empfinden, sondern eine Ungewissheit über die Demokratie?
Fundament und Resilienz
Wir rufen nach der streitbaren oder mehr noch: nach der wehrhaften Demokratie. Die Demokratie müsse sich gegen die inneren und äußeren Feinde wehren, gegen diejenigen, die die Demokratie bedrohen – oder genauer: gegen die, die die demokratische Ordnung bedrohen.
Wir sehen unsere Ordnung bedroht, eine Ordnung, die wir demokratisch nennen, obwohl Demokratie in ihrem Kern Ordnung in Frage stellt oder zumindest jede Ordnung immer als vorläufig kennzeichnet. Demokratie ist und hat keine ewige Ordnung, sondern ihre jeweilige Ordnung ist immer neu zu erringen. Artikel 28 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1793 hielt sogar fest, keine Generation könne die zukünftigen Generationen unter ihre Gesetze zwingen: „Un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et de changer sa Constitution. Une génération ne peut assujettir à ses lois les générations futures.“
Wir befinden uns daher in einer merkwürdigen Dialektik. Wir suchen ein Fundament einer resilientenGesellschaft und Wirtschaft. Wir suchen Stabilität und Halt. Aber wir suchen sie im Streit. Wir suchen die Dissonanz, um die Harmonie zu schützen.
Kann diese Art der streitbaren Demokratie das Fundament einer resilienten Wirtschaft sein? – Man kann diesen Teil der Frage recht kurz mit einem Ja beantworten, weil die Wirtschaft sich in der Vergangenheit noch jeder Regierungsform gegenüber recht resilient gezeigt hat. Wir kommen darauf zurück.
Viel spannender ist die umgekehrte Frage: Ist die Wirtschaft in der Form der freien Markwirtschaft oder des Kapitalismus ein Fundament für die streitbare Demokratie? – Diese Frage wird meist unter der Perspektive der sozialen Ungleichheiten diskutiert, die der Kapitalismus produziere. Ich will heute drei andere Perspektiven beleuchten:
- Zunächst schauen wir uns die Perspektive der Ökonomen an, die historisch eher skeptisch waren, ob die Demokratie die geeignete Staatsform für eine freie Wirtschaft sei.
- Dann betrachten wir die Positionen und Handlungen von Unternehmern und Managern in Krisenzeiten der Demokratie, die auch nicht dafür sprechen, dass sich die Demokratie auf die Wirtschaft verlassen könnte.
- Und schließlich analysieren wir aus systemtheoretischer Perspektive Demokratie und Ökonomie, was uns zeigen wird, dass die beiden Systeme einander fremd sind und unterschiedlichen Logiken folgen.
Der Zweifel der Ökonomen an der Demokratie
Wir alle hier sind mit der Grundhypothese aufgewachsen, dass sich freie Wirtschaft und demokratische Gesellschaft gegenseitig bedingen. Das ist ein gewisser Grundkonsens, der es bis in die ökonomischen Lexika geschafft hat. Daher schauen wir seit geraumer Zeit auch staunend nach China und die dort herrschende erfolgreiche kapitalistische Diktatur.
Demokratie als Gefahr für die freie Wirtschaft
An den Anfängen der Demokratie stellten sich die Ökonomen die Frage, ob die Demokratie nicht das Prosperieren der Volkswirtschaften gefährde. Man sorgte sich um den Schutz des Eigentums, um die Freiheit des Unternehmers und um die Stabilität des Gemeinwesens.
So betrachte Adam Smith es als Aufgabe einer bürgerlichen Regierung, die Sicherheit des Eigentums der Wohlhabenden vor den Armen zu beschützen.[1] Und der französische Ökonom François Guizot erklärte Mitte des 19. Jahrhunderts, das allgemeine Wahlrecht würde dazu führen, dass die Armen die Reichen enteigneten. Allein die Besitzenden sollten daher politische Entscheidungen treffen. Eine allgemeine Demokratie sei mit einer wahrhaft freien Gesellschaft unvereinbar.[2] Demokratie zerstöre den Wohlstand und trockne seine Quellen aus, so Vilfredo Pareto: „Sie gräbt ihr eigenes Grab und zerstört, was sie ins Leben rief“.[3]
Dass der gesellschaftliche Wohlstand wuchs, obwohl die demokratischen Rechte der Menschen zunahmen, taten die Ökonomen als einmalige Sondereffekte ab oder als eine bald vorübergehende Erscheinung. So wie wir uns heute wundern, dass die Demokratie in China nicht vorankommt, wunderten sie sich, dass die Wirtschaft sich trotz der Demokratie positiv entwickelte. Ihre Theorie ließen sie sich von der Empirie damals nicht kaputtmachen. Und die Zusammenbrüche von jungen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg sahen sie dann als Bestätigung dieser Theorie: Russland 1917, Italien 1922, Portugal, Polen und Litauen 1926, Jugoslawien 1929, Deutschland und Österreich 1933, Estland und Lettland 1934, Griechenland 1936 und Spanien 1936-1939. – Die Demokratie garantierte nicht die Stabilität, die für die Volkswirtschaft nötig war, darum wurde sie durch eine effizientere Herrschaftsform abgelöst.
Freie Wirtschaft als Bedingung der Demokratie
Die Skepsis der Ökonomen wandelte sich erst mit der Wirtschaftswunderzeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die westlichen Volkswirtschaften wuchsen in nie dagewesener Weise, und gleichzeitig wurde das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen eingeführt, in den USA die Rassentrennung aufgehoben und in Griechenland (1974), in Spanien (1977) sowie in Südkorea (1987) die Diktaturen von Demokratien abgelöst.
Dennoch findet man bis in die 1990er Jahre so gut wie keinen Ökonomen, der die Demokratie als Bedingung für eine prosperierende Gesellschaft betrachten würde. Aber die Unvereinbarkeitsthese wird aufgeben. Vielmehr wird nun überwiegend ein Abhängigkeitsverhältnis derart gesehen, dass Demokratien nur in kapitalistischen Wirtschaftsordnungen gedeihen können.
Milton Friedman sprach in seinem 1962 erstmals veröffentlichten Buch Capitalism and Freedom davon, dass der Kapitalismus die notwendige Bedingung für politische Freiheit sei, wenn auch keine hinreichende. Die historischen Beispiele des faschistischen Italiens und Spaniens, Deutschlands unter verschiedenen nicht-demokratischen Regimen, Japans vor den Weltkriegen und des zaristischen Russlands vor Augen formuliert er:
„It is therefore clearly possible to have economic arrangements that are fundamentally capitalist and political arrangements that are not free.“[4]
Doch nur mit einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung seien politische Freiheit und Demokratie möglich. Nur wer wirtschaftlich von der Staatsführung unabhängig sei, könne sie frei kritisieren und gedanklich wie praktisch Alternativen zur bestehenden Regierung formulieren.8
Die ökonomische Gesellschaft ist in diesem Denken die Bedingung der Möglichkeit für eine liberale demokratische Gesellschaft. Der Ökonom Friedrich August von Hayek geht sogar so weit, die ökonomische Gesellschaft als Retterin der Demokratie vor sich selbst zu porträtieren. Demokratie, so schreibt er in den späten 1970er Jahren, habe eine Tendenz dazu »zwangsläufig egalitär« zu werden.[5] Die freie Marktwirtschaft sei demgegenüber der Garant für Liberalität. Es wundert nicht, dass Hayek dem chilenischen Putsch gegen Allende positive Seiten abgewinnen konnte, um es einmal vorsichtig zu formulieren.
Demokratie und freie Wirtschaft – ein natürliches Paar
Dass Demokratie und Kapitalismus sich gegenseitig fördern und eventuell sich sogar gegenseitig bedingen, diese Perspektive setzt sich erst seit den 1980er Jahren durch. Die demokratischen Staaten schaffen es, die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre – auch durch eine weitgehende Privatisierung von ehemaligen staatlichen Aufgaben und die Liberalisierung von Märkten – zu bewältigen. Das hatten viele Ökonomen nicht erwartet.
Gleichzeitig gerieten die sozialistischen Regime in Osteuropa und Südamerika unter ökonomischen Druck, und China entkam der Armutsfalle genauso wenig wie die afrikanischen Diktaturen, die die Kolonialherrschaft ablösten.
Man darf in diesem Zusammenhang aber auch den Wechsel der Wirtschaft aus einer Industrie- und Produktionsgesellschaft in eine Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft nicht unterschätzen. Für die Ökonomen wird auf einmal der einzelne Konsument interessant. 200 Jahre nach der Aufklärung entdecken sie das Individuum. Sie entdecken die Vielfalt der Konsumenten, und vor allem, dass sich mit dieser Vielfalt gute Geschäfte machen lassen. Das versöhnt sie mit den Interessen der weniger Vermögenden.
Und so rief Francis Fukuyama 1989 das „Ende der Geschichte“ aus. In der historischen Situation, in der Kapitalismus und Demokratie den Sozialismus besiegt hatten und das westliche Modell des demokratischen Verfassungsstaats sich weltweit durchzusetzen schien, beschrieb Fukuyama das Staatsmodell der Zukunft als eine „liberale Demokratie mit einfachem Zugang zu Videorekordern und Stereoanlagen“.[6] Wenn wir den Videorekorder und die Stereoanlagen durch Netflix, Spotify, Youtube, Instagram und Tiktok ersetzen, dann hat er zumindest für den Westen Recht behalten.
Ob man sich über dieses Ende der Geschichte nun freuen solle, darüber war sich Fukuyama hingegen nicht so sicher. Es werde eine sehr traurige Zeit sein:
„Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein völlig abstraktes Ziel zu riskieren, der weltweite ideologische Kampf, der Wagnis, Mut, Visionen und Idealismus hervorgebracht hat, wird ersetzt durch ökonomische Berechnung, das endlose Lösen technischer Probleme, Umweltsorgen und die Befriedigung ausgefeilter Kundenwünsche“[7]
Man könnte fast sagen, die Wirtschaft hat die Demokratie als Partnerin akzeptiert, weil sie selbst und ihr Funktionieren von ihr nicht mehr in Frage gestellt werden. Und wenn es nur Deutschland und die große Koalition gegeben hätte, dann hätte Fukuyama fast Recht behalten. In Deutschland hatten wir die ideologischen Auseinandersetzungen begraben, Politik wurde zur pragmatischen Problemlösung. Und die Wirtschaft prosperierte dank politisch abgesicherten Handelsbeziehungen mit dem Ausland, was uns wiederum das nötige Geld für die pragmatischen Problemlösungen verschaffte. – Überspitzt formuliert: Man hatte die Demokratie, aber man brauchte sie nicht. Das Unangenehme haben wir verdrängt oder bezahlt. Gestritten haben wir nicht viel. Weder im Inneren noch mit dem Ausland. Das war der Wirtschaft recht, denn Wohlstand braucht Harmonie.
Alle wollten gerne an das alte Diktum des Wandels durch Annäherung von Egon Bahr und Willy Brand glauben, schon allein deshalb, weil die Alternativstrategien des Regime Change im Irak und in Afghanistan sowie des Ausschlusses aus der westlichen Gemeinschaft von Iran, Nordkorea und Kuba nicht funktionierten. Und auch bei Russland sieht es heute auch nicht danach aus, als ob es funktionieren würde. Mit China versuchen wir es noch nicht einmal.
So stehen wir wieder einmal oder immer noch vor der Frage, ob wirtschaftlicher Wohlstand eine politische Liberalisierung und Demokratisierung von Gesellschaften nach sich zieht oder zumindest Demokratien stützen kann. Die empirische Lage ist unübersichtlich. Wir sehen, dass totalitäre Regime sich trotz Wohlstandswachstum inzwischen auch breiter Schichten nicht demokratisieren wie China, die Vereinigten Arabischen Emirate oder auch Saudi-Arabien. Und wir sehen, dass demokratische Gesellschaften trotz Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum ins Autoritäre zurücktendieren wie Ungarn oder die USA.
Die Parole der alten neuen Linken „It’s the economy, stupid“, scheint nicht mehr zu gelten. Die Marktwirtschaft sei keine hinreichende Bedingung für eine Demokratie, sagte Friedman. Er könnte recht behalten. Es gibt seit den 1990ern gar eine wirtschaftsphilosophische Schule, die unter dem Stichwort „Accelerationism“ den Menschen im Wirtschaftskreislauf durch Machinen ersetzen und die demokratischen Entscheidungsprozesse durch ökonomische Optimierungen ablösen möchte.
Historische Indizien
Revolutionen
Die Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die Ablösung der absolutistischen Regime und der Herrschaft von Adel und Kirche durch gewählte Parlamente, die wir heute gerne als Beginn der Demokratie feiern, lässt sich auch lesen als eine Anpassung der Machtstrukturen an die neuen ökonomischen Verhältnisse. Kaufleute und erste Industrielle waren zu Vermögen gekommen und verlangten Einfluss auf den Staat, der sie besteuerte.
Wenn man für einen Moment die historische Ordnung der Gesellschaft in Adelige und Nicht-Adelige ignoriert, kann man die Geschichte der Revolutionen auch als Fortsetzung der Kleinkriege zwischen den großen Unternehmern um Macht und Einfluss lesen. Die alten Unternehmen waren in Gestalt von Grafschaften und Fürstentümern territorial organisiert gewesen. Das war nun nicht mehr der Fall. So wurde die Grenzziehung schwieriger, sie goss sich nun nicht nur in territoriale Ansprüche, sondern auch in Gesetze und Vorschriften. Man kämpfte nicht mehr mit Armeen. Doch am Verhandlungstisch saßen nach wie vor nur die wohlhabenden Unternehmer. Der Club wurde größer, eine Demokratie war das nicht.
Wer kein Vermögen hatte und keine Steuern zahlte, war von Wahlen ausgeschlossen. Frankreichs Verfassung von 1791 führte ein strenges Zensus-Wahlrecht ein, und auch die erste deutsche Nationalversammlung der Paulskirche sollte nur von „Selbstständigen“ gewählt werden. Als die Lage in Deutschland instabil wurde, hätten die gemäßigten Liberalen die Revolution am liebsten gleich wieder beendet und eine konstitutionelle Monarchie eingerichtet. Ironischerweise war ausgerechnet die „Allgemeine Deutsche Wechselordnung“, die das Kreditwesen in Deutschland vereinheitlichte, das einzige Gesetz der Frankfurter Nationalversammlung, das auch nach dem Scheitern der Revolution in Kraft blieb. Zölle und Kreditwesen waren vereinheitlicht, da hatten die Unternehmen an der Restauration der Fürsten nicht mehr viel auszusetzen.
Konter-Revolutionen
Die Verstrickung der deutschen Großunternehmen in das NS-Regime und die sehr späte Aufarbeitung ihrer Beteiligung an den Verbrechen, die von der Zivilgesellschaft vielfach erzwungen werden musste, kennen wir alle.
Dabei waren die wenigsten Unternehmer anfangs aus Überzeugung Unterstützer des Regimes. Doch genauso wenig waren sie Freunde einer parlamentarischen Demokratie. Sie folgten schlicht ihren unternehmerischen Interessen. Die Regierung von Kanzler Franz von Papen, die bereits starke autoritäre Züge trug, unterstützten sie ausdrücklich. Das Ziel war Ordnung und Stabilität, die sie durch Gewerkschaften, Sozialisten und Kommunisten gefährdet sahen.
Erst nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begann die offensive Unterstützung durch den Reichsverband der deutschen Industrie. Für seinen Wahlkampf im Winter 1933 spendete man 3 Millionen Reichsmark. Und umgehend nach der Wahl im März organisierte man die Adolf-Hitler-Spende, an der sich alle Unternehmen in Abhängigkeit ihrer Lohnsumme beteiligen sollten.
Es ging den Industriellen um eine Beeinflussung der neu gewählten Regierung: Die von den Bauern geforderten Schutzzölle sollten nicht erhoben werden, und die SA sollte ihre Übergriffe auf die Arbeiter in den Betrieben einstellen, da diese die Produktion gefährdeten. Dafür war man bereit zu zahlen.
Fritz Thyssen, der schon länger mit der monarchistischen DNVP und auch den Nationalsozialisten sympathisierte, trat in einer Präsidiumssitzung am 23. März 1933, am Tag der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, für eine Umbildung sämtlicher Gremien des Reichsverbandes „entsprechend den geänderten politischen Verhältnissen“ ein. Es müsse auch in den Reichsverband „ ein neuer Geist einziehen, nachdem der Liberalismus nunmehr endgültig überwunden sei“.[8] Widerstand gab es kaum.
Man arrangiert sich. Und man geht weiter seiner Arbeit nach, denn die gibt es auch in Diktaturen. Man verkauft seine Brötchen oder seine Versicherungen. Die Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Neuengamme, Ravensbrück, Sachsenhausen und Stutthof wurden von lokalen Betrieben mit Essen beliefert, aber eben auch von der Allianz gegen Feuer versichert.[9]
Der lokale Mittelstand zeigte sich häufig in hohem Maße opportunistisch oder – um ein neutraleres Wort zu gebrachen – unternehmerisch. Miederwaren waren mit den Kleiderbezugsmarken der NS nicht zu erhalten; daher fertigte die Miederwarenfabrik aus dem schwäbischen Dorf, in dem ich wohne, Unterwäsche für die Wehrmacht. Der damalige Juniorchef wurde Obersturmführer bei der SS und war dort für die Beschlagnahme von Unterhaltungselektronik zuständig, die durch KZ-Häftlinge für den Verkauf aufbereitet wurden. Bei einer seiner Reisen konnte er auch die Übernahme einer Textilfabrik in den Niederlanden einfädeln, deren jüdische Inhaber enteignet worden waren.[10] „Geschäftstüchtig“ nannte man das lange Zeit im Ort.
Der pragmatische Umgang bis heute
Wir alle wünschten uns, das könne so nicht mehr passieren. Doch es geschieht bis heute: In den jüngeren „westlichen“ Diktaturen in Spanien, in Griechenland oder in Südkorea wuchs die Wirtschaft, und die Unternehmen florierten. In Chile wurde gar der Putsch selbst gegen Allende von den großen Unternehmen und dem chilenischen Großbürgertum mitgetragen.
Und heute ist die Rolle selbst der westlichen Unternehmen in China, Saudi-Arabien oder vor kurzem noch in Russland nicht anders. Man ist Teil der lokalen Wirtschaftsorganisationen. Man vernetzt sich. Man betreibt Lobbyarbeit. Man spricht nicht über Politik, nicht über Verfolgung, nicht über Folter oder Hinrichtung, sondern man beklagt die Ineffizienz der Verwaltung, sei sie demokratisch oder undemokratisch kontrolliert. Unsere Exporte nach Saudi-Arabien sind in den vergangenen 20 Jahren doppelt so schnell gewachsen wie die nach Frankreich, Italien, Großbritannien oder Spanien. Die nach China fast sechsmal so schnell.
Entscheidend ist im Großen wie im Kleinen: Das sind alles keine Überzeugungstäter, das darf man als Unternehmer auch nicht sein, man muss sich nach dem Markt richten. Ab einem gewissen Moment ist es einfach opportun, sich mit den Mächtigen gutzustellen, um die eigenen Geschäfte nicht zu gefährden. Als Manager oder Unternehmer bezieht man keine politische Position. Man handelt ökonomisch.
Das gilt vielfach bis heute. Lassen Sie mich hier einen letzten Satz zur aktuellen Situation sagen: So dankbar ich für die Initiative der deutschen Wirtschaft gegen Rechtsextremismus bin. So sehr macht mir die Argumentation Sorgen. Die Wirtschaft argumentiert ökonomisch. Wir bräuchten Einwanderung und europäische Integration für unseren Wohlstand. Die Fremden sind nützlich. Und das ist ja auch richtig. – Was aber geschieht, wenn der Business Case nicht mehr aufgeht? Was geschieht, wenn die Fremden nicht mehr nützlich sind? Wo steht die Wirtschaft dann?
Die Reaktion einzelner EDEKA-Kaufleute auf die Kampagne der Zentrale zu den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen zeigt genau das: Wirtschaftlich rationales Handeln richtet sich nach der individuellen Nutzenfunktion
Systemtheoretische Zusammenhänge
Dieser Pragmatismus im Umgang. Dieses Ignorieren der Demokratie. – Woran liegt das? Warum ist „die Wirtschaft“ wenig geneigt, sich politisch für die Demokratie einzusetzen? – Ein systemtheoretischer Blick auf das Verhältnis von Wirtschaft und Demokratie mag uns helfen zu verstehen, warum sich die beiden Bereiche so fremd sind.
Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann verstand Gesellschaften – vereinfacht gesprochen – als Kommunikationssysteme. Die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft – also die Fragen, wer dazu gehört und wer nicht, die Fragen von Einfluss und Macht, die Fragen, was sich gehört und was nicht – all das geschieht über kontinuierliche Kommunikation.
Moderne Gesellschaften haben aber nicht nur ein Kommunikationssystem, sie sind ausdifferenziert und in Sub-Systeme gegliedert. Und diese funktionieren nach unterschiedlichen Kommunikationsformen – Luhmann nennt sie Codes. So unterscheidet der Code im Rechtssystems zwischen „erlaubt“ und „nicht erlaubt“. Im Gesundheitssystem zwischen „gesund“ und „nicht gesund“. Im Bildungssystem zwischen „gebildet“ und „nicht gebildet“. Und da diese Fragen alles andere als einfach sind, differenzieren sich die Systeme auch selbst nochmal aus. Man kennt seinen Goethe, hat aber keine Ahnung von Physik, man hat eine kaputte Hüfte, aber ein gesundes Herz.
Der Code der Wirtschaft
Der Code der Wirtschaft besteht nach Luhmann in der Opposition von „zahlungsfähig“ und „nicht zahlungsfähig“. Und das Kommunikationsmedium dafür ist das Geld. Mit ihm werden Zahlungen getätigt. Jede Zahlung führt in der Folge zu einer reduzierten Zahlungsfähigkeit beim einen und einer erhöhten Zahlungsfähigkeit beim anderen. Und dieser Effekt führt zur wirtschaftlichen Dynamik.
Was das Subsystem Wirtschaft nun von allen anderen unterscheidet: Wir haben es hier mit der denkbar einfachsten Kommunikationsform zu tun, die man sich vorstellen kann:
„Man gibt nicht in Ausführung einer sozialen Verpflichtung zur Reziprozität, man hilft nicht als Nachbar, man arbeitet nicht in der frommen Gesinnung, dadurch dem Willen Gottes zu dienen. Man lässt sich bezahlen.“[11]
Die wirtschaftliche Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen sind vollkommen voraussetzungslos. Geld stinkt nicht. Geld hat keine Geschichte. Es ist universal einsetzbar. Unter ökonomischer Hinsicht herrscht maximale individuelle Freiheit. Daher war der Kapitalismus für den Liberalismus so attraktiv.
Dieser Code führt in seiner Einfachheit nun zu einigen Eigenheiten des ökonomischen Systems:
- Das System sieht radikal vom Individuum ab. Für die ökonomische Transaktion ist es völlig irrelevant, wer vor Ihnen steht. Ihre einzige Frage ist: Kann die Person bezahlen? – Altersgrenzen oder Befähigungsnachweise oder Arzt-Rezepte kommen nicht vor.
- Das System sieht radikal vom Kontext ab. Für Ihre Zahlungsfähigkeit gibt es keinen Ladenschluss und auch keine Tempo-30-Zonen. Und daraus folgt:
- Zahlungsfähigkeit ist maximal verrechenbar. Sie können jede Zahlung mit jeder anderen verrechnen. Für Ihre kaputte Hüfte hingegen nutzt Ihnen Ihr gesundes Herz wenig.
- Und die Zahlung hat einen festgelegten Zeitpunkt. Sie kennt eine Gegenwart, zu der sie getätigt wird. Daher können sie zu jedem Zeitpunkt eine ausgeglichene Bilanz des Systems erstellen. Die Rechnung geht immer auf. Auf Systemebene gibt es da weder Defizit noch Überschuss. Sie wissen immer, wo das Geld gerade ist. Es verschwindet nicht einfach. Im Zweifelsfall hat es jemand anders.
- Und schließlich ist das System auf Wachstum ausgelegt. Auf individueller Ebene streben die Systemteilnehmer nach einer Maximierung ihrer Zahlungsfähigkeit. Und auch auf Systemebene erhöht die Möglichkeit der Kreditaufnahme und der zu zahlende Zins die Gesamtzahlungsfähigkeit des Systems. Wenn der erhöhten Zahlungsfähigkeit eine Realität an Waren und Dienstleistungen gegenübersteht, sprechen wir von Wachstum. Ist das nicht der Fall, von Inflation.
Der Code der Demokratie
Wie funktioniert nun das politische System? Und was macht darin die Demokratie aus? – Die Codierung des politischen Systems ist nach Luhmann der Unterschied von „mächtig“ und „nicht mächtig“. Man übt Macht aus, oder man übt sie nicht aus.
Wir alle würden nun sagen, dass die Demokratie sich von anderen Herrschaftsformen darin unterscheidet, wie jene Macht erlangt wird. Sie wird nicht per Geburt vererbt, nicht per Weihe übertragen und nicht mit Gewalt an sich gerissen, sondern sie wird von den Beherrschten auf Zeit verliehen.
Was aber die Kommunikation in einer Demokratie von der Kommunikation in anderen politischen Systemen unterscheidet, ist nach Luhmann die „Spaltung der Spitze […] durch die Unterscheidung von Regierung und Opposition“. [12]
Der Code „mächtig“ / „nicht mächtig“ wird in sich selbst nochmals gespalten. Demokratie ist nicht nur die Spaltung der Spitze in Regierung und Opposition, sie ist die Spaltung der Regierungen und Oppositionen im Plural: Regional bei uns in Ländern und Kommunen, thematisch in verschiedene Ministerien und Behörden und funktional in Verwaltung, Legislative, Judikative und journalistische Öffentlichkeit. Demokratie ist pluralistische, öffentlich kontrollierte Herrschaft.
Und darum unterscheidet sie sich fundamental vom ökonomischen Code:
- Demokratie ist radikal individualisierend. Es ist nicht irrelevant wer vor Ihnen steht, wenn es um die Ausübung von Macht geht. Während die Zahlungsfähigkeit einzig an das Kommunikationsmedium „Geld“ gebunden ist, ist Macht an das individuell definierte Amt gebunden.
- Demokratie ist höchst kontextuell. Dieselbe Amtsperson kann je nach Kontext unterschiedliche Befugnisse haben. Dafür haben wir den Katastrophenfall oder den Ausnahmezustand definiert.
- Macht ist in der Demokratie nur begrenzt verrechenbar. Wenn Sie einen Kompromiss schließen, verrechnen Sie in gewisser Weise Macht, aber das hat enge Grenzen. Der Bürgermeister von Hamburg hat in Bremen nichts zu sagen.
- Und die Ausübung von Macht hat im Unterschied zu einer Zahlung keinen festgelegten Zeitpunkt, weil sie durch ihre Ausübung nicht weniger wird. Es könnte sogar sein, dass sie dadurch erst zunimmt. Sie können also nicht zu jeder Zeit eine ausgeglichene Bilanz erstellen. Es gibt zwar kein Geld-Vakuum, aber es gibt ein Macht-Vakuum. Demokratie braucht Zeit.
- Und schließlich ist in einer Demokratie die Fülle der Macht nicht auf Wachstum, sondern auf Reduktion angelegt. Das Ziel des politisch Handelnden ist nicht die Machtmaximierung, sondern die Machtübergabe. Demokratie ist auf Zukunft hin orientiert, und zwar in einer Weise, dass die liberale Demokratie ein Minimum von Machtausübung anstrebt.
Stabilität der Systeme
Reflektiert man auf der Grundlage dieser Eigenschaften auf die Stabilität der beiden Systeme Wirtschaft und Demokratie, so ergibt sich ein weiterer wesentlicher Unterschied.
Das Verhalten eines einzelnen Unternehmens gefährdet nie das Funktionieren des Systems der Wirtschaft als Ganzer. Die Ökonomie ist in einer Weise als System stabil, die wir von kaum einem anderen gesellschaftlichen System kennen. Es rekonstruiert sich als System aus Eigeninteresse und Zahlungsflüssen noch aus dem größten Chaos wieder neu.
In der Demokratie hingegen gefährdet das Verhalten einzelner das Funktionieren des Systems. Damit Demokratie funktioniert, muss der Verlierer von Macht das Funktionieren des Systems über sein eigenes Macht-Interesse stellen. Wirtschaft funktioniert umgekehrt. Hier muss jeder nur an sein eigenes Interesse denken, die unsichtbare Hand stabilisiert das System.
Wenn die Wirtschaft nun nicht hilft, wer dann?
Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt unser Grundgesetz. Sie drückt sich vor allem in seiner Freiheit aus, daher befürworten wir eine liberale Marktordnung: Jeder soll unternehmerisch tätig werden können, jeder soll das anbieten und kaufen können, was er möchte, um sein Leben so zu gestalten, wie es ihm vorschwebt.
Doch eben darum befürworten wir auch in den anderen Bereichen der Gesellschaft liberale Ordnungen: Jeder soll künstlerisch, sportlich, religiös tätig werden können. Er soll nicht nur wirtschaften, wie er möchte, sondern generell das tun dürfen, was er möchte, um sein Leben so zu gestalten, wie es ihm vorschwebt.
Das führt unweigerlich zur Auseinandersetzung und zum Streit. Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Noch bevor das eine Moral werden kann, ist es ein rein analytischer Satz. Die Antwort der liberalen Ökonomen war: Lass uns die Konflikte in ökonomische Nutzenfunktionen übersetzen und auf Märkten lösen. Das ist effizienter. Wir brauchen dafür nicht unbedingt den Staat oder die schwerfällige Demokratie.
Doch was die Ökonomie übersieht: Die Freiheit in ihrer Ausübung, in ihrer Realisierung, ist eine Funktion der Stärke. Eine Funktion der Zahlungsfähigkeit und der Macht. Wer mehr Geld und mehr Macht hat, hat mehr Möglichkeiten. Nur der Starke ist frei aus eigenen Stücken.
Daher erschöpft sich die Würde des Menschen eben nicht in seiner Freiheit. Auch der unfreie Mensch ist Mensch. – Die Würde des Menschen begründet sich nicht in seiner Freiheit oder gar in seiner Leistung. Sie begründet sich in der Tatsache, dass niemand ist wie der andere. Jeder andere ist ganz anders. Niemand ist ersetzbar. Darin liegt die Würde des Menschen begründet. Die Freiheit des Menschen ist eine Forderung, die wir aus dieser Würde ableiten.
Die Ökonomen würden sagen, der andere ist wichtig, weil er mir nützt. Und ich würde behaupten, dass diesem Satz viele heute zustimmen würden, weil wir in einer ökonomischen Gesellschaft leben. – Doch was ist mit denen, die niemandem mehr nützen?
Es ist ein sehr alter Gedanke, aber gerade im Umgang mit denen, die zu nichts nutze sind, zeigt sich unsere Menschlichkeit. Unsere Würde als Menschen erweist sich darin, wie wir mit den Schwachen umgehen, mit denen, die Schwierigkeiten haben, ihre Freiheit zu leben. Unsere Würde erweist sich im Dienst am anderen. Die monotheistischen Religionen machen den Dienst am Nächsten zum Dienst an Gott. Es geht darum, dass wir, die wir mächtig sind, unsere Freiheit zurücknehmen, um den Schwachen Leben und Freiheit zu ermöglichen.
Dieser Gedanke der Selbstbegrenzung meiner Freiheit ist der demokratische Gedanke des Machtverzichts. Wir erinnern uns: Demokratie besteht vor allem darin, Macht abzugeben.
Wenn wir nun von der Demokratie verlangen, sie müsse streitbar sein, dann können wir uns nicht darauf verlassen, dass darin jeder für sich streitet. Wir müssen von Demokraten verlangen, dass sie für die streiten, die nicht streiten können. Wenn wir das Fundament der Demokratie ernstnehmen, die Würde des einzelnen Menschen unabhängig von seinem ökonomischen Wert, dann müssen die Mächtigen für die Ohnmächtigen streiten, nicht für sich selbst.
Und vielleicht liegt genau hier heute ein Problem unserer Demokratie: Die Starken streiten zu viel für sich selbst und zu wenig für die Schwachen.
Auch in der Wirtschaft setzen sich die Starken durch. Daher wird die Wirtschaft wird uns nicht helfen. Aber die die Menschen aus der Wirtschaft, Sie, wie Sie hier sitzen, können wir für die Verteidigung der Demokratie schon ganz gut gebrauchen. Nicht weil es Ihnen nützt, sondern weil es zur Würde Ihres Menschseins gehört.
Vielen Dank!
[1] Vgl.: Smith, Der Wohlstand der Nationen, V.1.2, S. 600ff.
[2] F. Guizot, ‘Discours sur la réforme du système électoral’, Le Moniteur Universel, 16 February 1842, pp. 321–2. — Zitiert nach: Krahé, „Changing Accounts of the Relationship Between Capitalism and Democracy: From Incompatibility to Partnership, and Back?“, 165f.
[3] Vgl.: Krahé, Max. ‘Changing Accounts of the Relationship Between Capitalism and Democracy: From Incompatibility to Partnership, and Back?’ History of Political Thought Volume 43, Number 1 (February 2022): 161–98, 172-73.
[4] Friedman, Milton, und Rose D. Friedman. Capitalism and Freedom. 40th Anniversary Edition. University of Chicago Press, 2002, 10.
[5] Vgl.: Hayek, Friedrich A. von. Social Justice, Socialism & Democracy: Three Australian Lectures. Turramurra, N.S.W.: Centre for Independent Studies, 1979, 39. Vgl. auch: Hayek, Friedrich A. von. The Road to Serfdom. Repr. Routledge Classics. London: Routledge, 2006, Kap. 5.
[6] Fukuyama, Francis. ‘The End of History?’ The National Interest, no. 16 (1989): 3–18, 8.
[7] Fukuyama, 18.
[8] Zitiert nach: Wengst, Udo. ‘Der Reichsverband Der Deutschen Industrie in Den Ersten Monaten Des Dritten Reiches. Ein Beitrag Zum Verhältnis von Großindustrie Und Nationalsozialismus’. Vierteljahrshefte Für Zeitgeschichte, no. 28 (1980): 94–110, 98.
[9] Vgl.: https://www.munichre.com/de/unternehmen/ueber-munich-re/konzerngeschichte/zaesur-2-muenchener-rueck-in-der-ns-zeit-1933-bis-1945.html (abgerufen am 8.8.2023)
[10] Vgl.: Sannwald, Wolfgang. NS-Getreue in der Provinz: Gomaringen zwischen Weimar und Bonn und SS-General Gottlob Berger. Gomaringer Heimatbuch, Band 3. Gomaringen: Gomaringer Verlag, 2021. Vgl. auch: http://www.informationsmittel-fuer-bibliotheken.de/showfile.php?id=11424;
[11] Luhmann, Niklas. Die Wirtschaft der Gesellschaft. 8. Auflage. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1152. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2019, 240f.
[12] Luhmann, Niklas. ‘Die Zukunft der Demokratie’. In Soziologische Aufklärung. 4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, 2. Aufl., 126–32. Opladen: Westdt. Verl, 1994, 127.